Am 1. April 2011 wurde El-Halabi von ihrem Stiefvater angeschossen und schwer verletzt. Seither setzt sie alles daran, wieder im Ring zu stehen.

Sie hat flüssig erzählt, ohne Stocken, die Antworten kamen spontan und trotzdem überlegt, aber nun, da das Gespräch gute zwei Stunden dauert, hält Rola El-Halabi inne. Sie hört auf, an ihrer goldenen Halskette mit dem dunklen Herzstein zu spielen, ihre wachen braunen Augen werden schmaler, sie muss kurz nachdenken. Die Frage war, ob sie heute, rund zehn Monate nachdem ihr Stiefvater sie fast zum Krüppel geschossen hat, auch etwas Positives in ihrer Situation sehen kann. Rola El-Halabi, 26, atmet tief ein und aus, dann sagt sie: "Ja, das kann ich. Mein Traum war immer, eine Legende zu werden und in Deutschland große Hallen zu füllen. Diese Möglichkeit habe ich jetzt, denn jetzt habe ich eine Geschichte."

Die Profiboxerin aus Ulm hat diese Geschichte oft und öffentlich erzählt in den vergangenen Monaten, zweimal sogar bei "Stern TV". Aber erst seit wenigen Wochen schafft sie es, beim Erzählen nicht mehr in Tränen auszubrechen oder den Faden zu verlieren. "Ich bin jetzt endlich so weit, dass ich beim Erzählen das Gefühl habe, von außen auf das Geschehen zu schauen, und nicht diejenige zu sein, die in den Lauf der Pistole blickt", sagt sie. Rola El-Halabi ist auf dem Weg zurück ins Leben einen enormen Schritt vorangekommen. Natürlich ist sie noch nicht über das Erlebte hinweg, das wird sie wohl niemals sein. Die Narben werden sie immer daran erinnern.

Am 1. April 2011 gegen 22.50 Uhr sitzt die junge Leichtgewichts-Weltmeisterin in der Umkleidekabine auf der Trabrennbahn Karlshorst in Berlin und bereitet sich auf ihre Titelverteidigung gegen die Bosnierin Irma Adler vor. Sie hört, dass es vor der Tür zu Tumulten kommt. Schüsse fallen, im nächsten Moment stürmt ihr Stiefvater Roy El-Halabi, 44, in die Kabine. Mit vorgehaltener Pistole zwingt er Rolas Trainer Jürgen Grabosch, ihren Arzt und ihren Physiotherapeuten, den Raum zu verlassen, dann schließt er die Tür. Mit dem ersten Schuss, abgefeuert aus wenigen Metern Entfernung, trifft er die rechte Hand, Rolas Schlaghand. Mit dem zweiten ihren linken Fuß, mit dem dritten ihr linkes Knie. Rola sagt, sie habe keine Schmerzen gespürt, "man fühlt die Kugeln nicht, wie sie sich in den Körper bohren". Sie schreit zwar, aber nur, weil der Krach der Schüsse sie erschreckt. Erst nach dem dritten Schuss kommt die Angst. "Ich dachte plötzlich: Jetzt richtet er mich ganz langsam hin!", sagt sie.

An den vierten Schuss, der den rechten Fuß trifft, erinnert sie sich nicht. Mittlerweile sitzt sie in ihrem eigenen Blut, trotzdem redet sie beruhigend auf ihren Peiniger ein. Es ist ein Instinkt, der ihr das Leben rettet. Roy El-Halabi lässt die Waffe sinken, setzt sich auf die Bank, weint. Dann ruft er drei Freunde an, gesteht die Tat und lässt sich widerstandslos von einem Spezialkommando festnehmen.

Es war das blutige Ende eines Konflikts, der sich über Jahre entwickelt hatte. Rola, im Libanon geboren, hat ihren leiblichen Vater nie kennengelernt, er ließ die Mutter und sie sitzen, kurz nachdem sie nach Deutschland gekommen waren. Rola war eineinhalb Jahre alt. Die Mutter lernte Roy El-Halabi in Ulm kennen, auch er Kriegsflüchtling aus dem Libanon. "Er kümmerte sich rührend um mich und meine jüngere Schwester, hat uns adoptiert und akzeptiert wie leibliche Kinder", erinnert sich Rola. Sie war ein Sensibelchen damals. Als sie in der Schule gehänselt wurde, brachte der Stiefvater die Neunjährige zu Thomas Wiedemann ins Mekong-Boxgym. Als einziges Mädchen lernte sie dort Thai- und Kickboxen. "Es war der Einstieg in eine andere Welt. Der Kampfsport hat mich gelehrt, Nein zu sagen. Von da an hatte ich Selbstbewusstsein und spürte, was ich wollte", sagt sie.

Seit ihrem 13. Lebensjahr war für Rola klar, dass sie Boxprofi werden wollte, und darauf richtete sie ihr Leben aus. Ihr Stiefvater wurde ihr Manager, im Juni 2007 bestritt sie den ersten von bislang elf Profikämpfen. Im Sport fand sie nicht nur Bestätigung, sondern sie fühlte sich auch frei. "Das Gym war der einzige Ort, wo ich über mich selbst entscheiden konnte. Das Boxen hat mir so viel gegeben, dass ich vieles hingenommen habe, um weiter trainieren zu können", sagt sie. Während des Trainings konnte ihr Stiefvater sie nicht kontrollieren - abseits des Rings tat er es umso mehr. Verabredungen mit Freundinnen waren nur mit seiner Erlaubnis möglich. Wenn sie in die Disco wollte, ging er mit und beobachtete sie. Rola nahm es hin, im Glauben, er wolle nur ihr Bestes. Bis sie 2010 Kosta kennenlernte.

Kosta, Grieche, zwei Jahre älter als sie, trainierte als Hobbysportler im Mekong-Gym. Rola, die zuvor nie einen Freund gehabt hatte, verliebte sich. Drei Monate später erzählte sie es ihrem Stiefvater. Zuerst reagierte er gefasst, am nächsten Tag verbot er ihr den Umgang mit Kosta - und bekam zum ersten Mal den Widerstand der Tochter zu spüren. Der Streit spitzte sich so zu, dass Roy El-Halabi nach sechs Wochen aus der Familienwohnung auszog. Er verbreitete Lügen im Internet: Seine Tochter habe versucht, sich umzubringen, sei in eine psychiatrische Einrichtung eingewiesen worden und habe ihre Boxkarriere beendet. Und er drohte regelmäßig, mal indirekt, meist offen, mit körperlicher Gewalt. Er werde "die Rola zum Krüppel schießen", wenn er sie mit Kosta sehe. Da er im Rotlichtmilieu arbeitete, wo derlei Drohungen an der Tagesordnung sind, nahm ihn niemand ernst, bis auf Rola.

Als sie sich im Dezember 2010 an die Polizei wandte, hieß es nur: Solange nichts passiert, können wir nicht eingreifen. Am 1. April 2011 wäre es zum Eingreifen fast zu spät gewesen.

Im November wurde Roy El-Halabi wegen gefährlicher und versuchter schwerer Körperverletzung zu sechs Jahren Haft verurteilt. Rola glaubt nicht, dass der Stiefvater sie töten wollte. "Er hat das in Kauf genommen. Aber er wollte mich zum Krüppel machen. Er wollte, dass ich wieder von anderen abhängig wäre, vielleicht hat er sogar gedacht, dass er sich wieder um mich hätte kümmern dürfen", sagt sie. "Aber er ist mit allem gescheitert. Er wollte meine Karriere zerstören, Kosta und mich auseinanderbringen. Beides wird ihm nicht gelingen!"

Für diese Überzeugung hat sie lange gebraucht. Die Monate nach der Tat waren eine einzige Qual, körperlich, vor allem aber seelisch. Sechs Wochen lang saß sie im Rollstuhl. Am härtesten setzte ihr die Frage zu, ob sie je wieder ein normales Leben würde führen können. Psychologische Hilfe lehnte sie ab, bis auf die ersten fünf Tage im Krankenhaus. "Ich wollte keine festen Termine, um zu reden, sondern selbst entscheiden, wann und wem ich von meinen Gefühlen erzähle", sagt sie.

In erster Linie war es ihr Verlobter, der ihr half, die dunklen Tage durchzustehen. Kosta ist während des gesamten Gesprächs im Café Gustaff in der Ulmer Altstadt anwesend, er drückt ihr ab und zu die Hand oder streicht ihr über die Haare. Mit einer Mischung aus Einfühlungsvermögen und Nüchternheit, sagt Rola, habe er sie perfekt aufgebaut. "Er hat mir beigebracht, dass ich nicht alle schlechten Phasen, die ich habe, auf den 1. April beziehen darf", sagt sie. Und er hat sie aufgefordert, nicht in Selbstmitleid zu zerfließen, wenn sie den Lebensmut verlor. Kosta habe schon früh versucht, das Positive zu sehen. "Wir bezahlen einen hohen Preis, aber jetzt sind wir frei", das war so ein Satz von ihm, den sie erst nach einiger Zeit verstehen konnte.

Der zweite wichtige Aufbauhelfer war Bronko, ein Rottweiler-Rüde, für den im Sommer auf Facebook ein neues Zuhause gesucht wurde. Rola, die bis dahin Angst vor Hunden hatte, sah ihn im Internet, mochte ihn sofort, noch in derselben Nacht holten sie ihn zu sich. Eine Woche später hatte der Hund einen schweren Unfall, bei dem er auf einem Auge erblindete. Das schweißte die beiden auf tragische Weise Verletzten irgendwie zusammen. Dank Bronko überwand Rola ihre Angst, allein in der Wohnung zu sein oder auf die Straße zu gehen.

Nach und nach gelangen ihr kleine Schritte zurück auf dem Weg ins Leben. Im Juli besuchte sie in München zum ersten Mal wieder einen Boxkampf und spürte, dass die Atmosphäre sie wieder packte. Im September startete sie beim Ulmer Marathon über die Fünf-Kilometer-Distanz, sie lief die Strecke bei Regen und Wind in 33 Minuten. Und doch bringt sie erst seit kurzer Zeit die Kraft auf, Zukunftspläne anzugehen.

Rola El-Halabi hat lange gegen Widerstände und Konventionen ankämpfen müssen. "Wenn ich nicht zu kämpfen gelernt hätte, wäre ich jetzt nicht da, wo ich bin", sagt sie. Ihre Boxkämpfe organisierte sie mit ihrem kleinen Team, manchmal hat sie noch zwei Stunden vor Kampfbeginn selber Tickets verkauft. Sie weiß, dass es mit einem fremd klingenden Namen schwierig ist, im eigenen Land ernst genommen zu werden, auch wenn sie den deutschen Pass hat und in Baden-Württemberg ihr Abitur bestand. Als Beispiel erzählt sie von einem Gespräch mit der Mitarbeiterin eines Radiosenders über ein Interview. "Nachdem wir einige Minuten geplaudert hatten, fragte sie mich, ob die Dame Deutsch spreche oder ein Dolmetscher nötig wäre. Ich fragte, welche Dame sie meine. Sie dachte, sie hätte meine Managerin am Apparat."

Die großen Boxpromoter in Deutschland, deren Hilfe man braucht, um große Kämpfe machen und ordentliche Kampfbörsen verdienen zu können, hatte sie anfangs alle abgeklappert. "Überall hieß es: 'Du bringst sportlich alles mit, du siehst gut aus, kannst dich gut ausdrücken. Aber dir fehlt die Geschichte.' Regina Halmich wurde durch den Kampf mit Stefan Raab berühmt, Susi Kentikian war das arme Flüchtlingsmädchen, Ina Menzer hat mal eine Blutschlacht geschlagen. Ich hatte nichts dergleichen." Jetzt hat sie ihre Geschichte. Und jetzt stehen die Promoter Schlange, TV-Sender reißen sich um sie, es gibt Anfragen aus dem In- und Ausland, um ihre Lebensgeschichte zu verfilmen.

Sie hat eine Menge Ideen. Sie will zeigen, dass der Sport, für den sie fast ihr Leben gegeben hätte, jemanden positiv verändern kann. Sie möchte sich für Kinder in Not einsetzen, gegen Gewalt gegen Frauen kämpfen, auch die Gründung eines Boxstalls nur für Frauen schwebt ihr vor. In den vergangenen Monaten hat Kosta ihr geholfen, Anfragen und Termine zu koordinieren, er hat sie begleitet und dafür sein Café in der Ulmer Innenstadt aufgegeben. Aber jetzt wird er in einem neuen Job anfangen, auch das gehört dazu, wieder ein Stück Normalität zurückzugewinnen.

Die vielen medizinischen Behandlungen waren teuer. Bis heute lebt Rola einzig von der Unterstützung ihres Hauptsponsors Dolobene. Dafür ist sie zutiefst dankbar. Vom Staat will sie keinen Cent, ihr Stolz verbietet das. Sie will sich allein durchkämpfen. Längst nicht alle haben zu ihr gestanden, einige Freundschaften sind zerbrochen; manche konnten nicht verstehen, warum Rola so abweisend war in der Zeit, in der sie das Geschehene verarbeiten musste. "Was für Kraft das kostet, kann sich niemand vorstellen", sagt sie.

Im Mekong-Gym schuftet sie derzeit für ihr Comeback. Dass es das geben wird, bezweifelt sie nicht, die Frage ist nur, wann. Noch kann sie den Mittelfinger der rechten Hand nicht strecken und ihre Schlaghand nicht zur Faust ballen. In drei Monaten wird sie noch einmal operiert, danach wird sie klarer sehen. Aber sie weiß, erst wenn sie wirklich wieder im Ring steht, ist ihre Geschichte perfekt. "Ich möchte, dass ich als Weltmeisterin im Gedächtnis der Fans bleibe und nicht als Boxerin, die fast erschossen wurde. Der 1. April wird immer der schlimmste Tag meines Lebens bleiben, und ich akzeptiere, dass er für mehr Medieninteresse gesorgt hat, als es jeder Kampf getan hätte", sagt sie. "Aber mein Leben soll nicht auf diesen Tag reduziert werden."

Manchmal fragt sie sich, wie es sein wird, wenn ihr Stiefvater aus dem Gefängnis entlassen wird. Sie hat jeglichen Kontakt abgebrochen. "Selbstverständlich habe ich die Sorge, dass er noch mehr Hass in sich trägt, wenn er zurückkommt", sagt sie, "aber ich kann es nicht verhindern, sondern nur darauf vertrauen, dass der liebe Gott schon alles lenkt." Auf keinen Fall will sie zulassen, dass solche Gedanken ihr Leben beeinflussen. Rola El-Halabi will die Geschichte ihres Lebens nicht mehr von anderen prägen lassen. Sie will sie selbst schreiben.