Immer mehr Prominente brechen ihr Schweigen und berichten von sexuellen Übergriffen in der Schulzeit. Amelie Fried fordert eine Entschuldigung.

Frankfurt/Main. Im Zuge der Aufdeckung sexuellen Missbrauchs an Schulen berichten nun auch zunehmend Prominente von Übergriffen während ihrer Internatszeit. Die Schriftstellerin und ehemalige Schülerin der Odenwaldschule, Amelie Fried, schreibt in einem Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ darüber, wie sie über Jahrzehnte die Erinnerung an selbst erlebte Grenzüberschreitungen in der Schule verdrängte. Auch der Schriftsteller Bodo Kirchhoff beschreibt im „Spiegel“ Missbrauch durch einen Lehrer in einem Internat.

Fried, die die unter massiven Missbrauchsvorwürfen stehende Odenwaldschule in den 70er Jahren besuchte, berichtet von alltäglichen sexuellen Grenzüberschreitungen wie etwa von einem Lehrer aufgenötigten Strip-Poker-Runden und erzwungenem gemeinsamen Duschen. Der betreffende Lehrer habe sie als „verklemmte schwäbische Spießerin“ bezeichnet, als sie beim Strip-Poker nicht habe mitmachen wollen. Fried beschreibt, „wie ich mich diesem Druck schließlich beugte, mich furchtbar schämte und die Erinnerung daran für Jahrzehnte verdrängt habe.“ Bei der Erinnerung daran spüre sie „wieder die Scham und das Gefühl, in meiner persönlichen Würde verletzt worden zu sein“.

Es habe immer Andeutungen und Witze über die Vorliebe des früheren Schuldirektor Gerold B.s und eines Musiklehrers für kleine Jungen gegeben. Immer wieder seien Sprüche von der „Hand unter der Bettdecke“ kursiert, mit der die betroffenen Jungen morgens geweckt würden.

Rückblickend sieht Fried einen einfachen Grund, dass sich keiner jemandem anvertraut habe: „Als Kind oder als sehr junger Jugendlicher will man nicht glauben, dass ein Lehrer, der ja ein Vorbild ist und ansonsten auch ein netter Kerl, etwas Unrechtes tut. Lieber gibt man sich selbst die Schuld.“ Als Jugendliche dieser Zeit seien sie glücklich gewesen, dass sie ihre Sexualität in einem angstfreien, aufgeschlossenen Klima hätten erleben können. „Dass einige dieser Erzieher diese großartige neue Freiheit als Deckmäntelchen für ihre Übergriffe missbrauchten – das ist der Skandal.“

Fried forderte Ex-Direktor B., der zu den Vorwürfen schweigt, zu einer Entschuldigung auf: „Entschuldige Dich und bitte Deine Opfer um Verzeihung. Dann wäre die Odenwaldschule, die für manche die Hölle war und für andere die Rettung, wieder die Schule, auf die wir stolz sein könnten, ’unsere OSO’.“ Frieds Kollege Kirchhoff beschreibt, wie er als Zwölfjähriger 1960 im evangelischen Internat Gaienhofen am Bodensee von einem Lehrer wiederholt missbraucht wurde. Der Heimleiter und Religionslehrer, sei „ein großartiger Kantor und verdammter Päderast“ gewesen, schreibt der 61-Jährige. Der Mann habe ihn „unter immer neuen Vorwänden auf sein Zimmer“ geholt und missbraucht.

Über Jahre habe er versucht, den Missbrauch in Worte zu fassen, schreibt Kirchhoff: „Ich musste über etwas sprechen, zu dem es keine Sprache gab, ich musste mir eine erfinden.“ Trotz der sexuellen Liberalisierung der nachfolgenden Jahrzehnte sei ihm dies bis heute nicht wirklich gelungen. „Der ganze Sex-Sprachmüll hat die Sprachnot der Betroffenen nicht gelindert, im Gegenteil: Für die schlichte Wahrheit gab es jetzt gar keine Worte mehr.“ Der Lehrer dagegen sei „mit Billigung der evangelischen Landeskirche davongekommen“.