In einem Brief entschuldigt sich der frühere Direktor bei Schülern, die er sexuell bedrängt und verletzt habe. Er bedauere das zutiefst.

Heppenheim. Zwei Wochen hat der frühere Leiter der Odenwaldschule, Gerold Becker, gebraucht: Jetzt hat er auf die schweren Missbrauchs-Vorwürfe hin sexuelle Verfehlungen zugegeben. „Schüler, die ich in den Jahren, in denen ich Mitarbeiter und Leiter der Odenwaldschule war (1969-1985), durch Annäherungsversuche oder Handlungen sexuell bedrängt oder verletzt habe, sollen wissen: Das bedauere ich zutiefst und bitte sie dafür um Entschuldigung“, schreibt der Reformpädagoge (Jahrgang 1936) an die jetzige Schulleiterin Margarita Kaufmann. Die Odenwaldschule im südhessischen Heppenheim gehört zu den bekanntesten Reformschulen in Deutschland. Über die Erklärung Beckers hatte die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ vorab berichtet.

Bisher haben sich 33 ehemalige Schüler als Opfer von Übergriffen zwischen den Jahren 1966 bis 1991 gemeldet. Beschuldigt werden acht Lehrer. Becker steht im Zentrum der Kritik, zumal es bereits 1999 erste Vorwürfe gegen ihn gab. Die Staatsanwaltschaft Darmstadt ermittelte damals, stellt jedoch das Verfahren wegen Verjährung ein. Jetzt wird gegen den Lehrer neu ermittelt, da es nach Angaben der Behörde auch jüngere Vorkommnisse geben könnte.

Becker, der in Berlin mit dem bekannten Pädagogen Hartmut von Hentig (84) zusammenlebt, schreibt weiter: „Diese Bitte um Entschuldigung bezieht sich ausdrücklich auch auf alle Wirkungen, die den Betroffenen erst später bewusst geworden sind.“ Er sei krank und müsse damit rechnen, „dass ich mein Krankenzimmer auch künftig bestenfalls stundenweise werde verlassen können“. Am Ende des Briefes heißt es: „Die von mir vor zwölf Jahren geäußerte Bereitschaft zu einem Gespräch mit betroffenen Schülern wiederhole ich noch einmal.

Die Odenwaldschule wird im nächsten Monat 100 Jahre alt. Neue Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs waren im Zuge des Jubiläums ans Tageslicht gekommen. Das Ausmaß der Übergriffe hatte die Direktorin Kaufmann überrascht. Die 54-Jährige hatte vergangene Woche unter Tränen Beispiele genannt, um Vergebung gebeten und Aufklärung versprochen. Die Odenwaldschule gilt als eine der bekanntesten deutschen Reformschulen. Vor 100 Jahren vom Pädagogen Paul Geheeb (1879-1961) gegründet, stellt sie bis heute das Lernen in Gemeinschaft in den Vordergrund.Die gut 200 Internatsschüler wohnen in rund 30 Gruppen, gemischt nach Alter und Geschlecht.

Am Sopnnabend kommender Woche (27. März) ist eine außerordentliche Mitgliederversammlung des Trägervereins des Elite-Internats geplant. Personelle Konsequenzen werden nicht ausgeschlossen. „Da gibt es aber auch unterschiedliche Meinungen“, sagte die Vorsitzende des Schulvorstandes, Sabine Richter-Ellermann, am Freitag. Die Sitzung ist nicht öffentlich. Die Schule will aber anschließend informieren.

Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) hat unterdessen die katholische Kirche ermahnt, rasch und umfassend mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. „Die Ankündigung der bayerischen Bischöfe, in Zukunft jeden Verdachtsfall der Staatsanwaltschaft zu melden, ist ein wichtiger Schritt“, sagte Leutheusser-Schnarrenberger „Hamburger Abendblatt“ (Sonnabend-Ausgabe). „Jetzt kommt es darauf an, dass diese Regelung schnell von allen Diözesen übernommen und angewendet wird.“

Zuvor hatte die Deutsche Bischofskonferenz angekündigt, sich an den verschärften Leitlinien des Erzbistums München und Freising zu orientieren. „Die Ergebnisse der Freisinger Bischofskonferenz werden in die Überarbeitung der Leitlinien der Deutschen Bischofskonferenz einfließen“, sagte ihr Sprecher Matthias Kopp.

Die Ministerin machte deutlich, dass sie sich bei dem geplanten Treffen mit Erzbischof Robert Zollitsch für ihre Kritik am Umgang der Kirche mit sexuellem Missbrauch nicht entschuldigen wird. „Wir treffen uns nicht, um Entschuldigungen auszusprechen“, sagte sie dem „Hamburger Abendblatt“. „Wir wollen herausfinden, wie den Opfern sexuellen Missbrauchs geholfen werden kann. Und was künftig präventiv besser laufen muss. Ich bin erleichtert, dass die katholische Kirche die Probleme in der Vergangenheit immer deutlicher anspricht.“

Ihre Erwartungen an Papst Benedikt XVI., der einen Hirtenbrief zu dem Thema unterzeichnet hat, wollte die Leutheusser-Schnarrenberger nicht öffentlich äußern: „Ich habe als Bundesjustizministerin keine Erwartungen an den Papst zu formulieren.“