Das Prinzip der Unschuldsvermutung fällt immer häufiger Gerichtsshowdowns nach US-Vorbild zum Opfer, fürchten Experten.

Endlich, nach insgesamt 43 Verhandlungstagen war die Beweisaufnahme abgeschlossen. Der Angeklagte sei überführt, meinten die drei Staatsanwälte und wollen den Moderator deshalb für vier Jahre und drei Monate ins Gefängnis schicken, allen bewiesenen Unstimmigkeiten, die an der Glaubwürdigkeit des Opfers und am Tathergang zweifeln lassen, zum Trotz.

Erwartungsgemäß plädierten Kachelmanns Pflichtverteidigerin Andrea Combé und Wahlverteidiger Johann Schwenn eine Woche später dann auf Freispruch und forderten eine finanzielle Entschädigung für die erlittene Untersuchungshaft und deren schwerwiegenden Folgen für ihren Mandanten. Es gebe keine objektiven Beweise für die Schuld Jörg Kachelmanns.

Jetzt müssen die drei Berufs- und zwei Laienrichter der 5. Großen Strafkammer am Mannheimer Landgericht bis zum Dienstag, 31. Mai, über die Schuld und das Strafmaß oder die Unschuld von Jörg Kachelmann befinden, der seine ehemalige Lebensgefährtin Claudia Simone D. nach einem Streit unter Zuhilfenahme eines Messers vergewaltigt haben soll. Sie haben nun das - vorerst - letzte Wort in einem bisher beispiellosen Verfahren. Vorerst deshalb, weil alles andere als ein Freispruch sicherlich ein Berufungsverfahren nach sich ziehen würde.

Ein objektives Urteil scheint in der aufgeheizten Atmosphäre unmöglich

Der Prozess gegen Jörg Kachelmann ist jedoch - ganz gleich wie das Urteil lauten wird - längst mehr als "nur" die Suche nach der Wahrheit in einem Gerichtsverfahren um einen prominenten Angeklagten in einem komplizierten Fall. In die deutsche Justizgeschichte dürfte er als Paradebeispiel dafür eingehen, wie eine eherne juristische Bastion namens "Unschuldsvermutung" erschüttert wurde. Dieses rechtsstaatliche Prinzip soll "Beschuldigte vor Nachteilen schützen, die einem Schuldspruch oder einer Strafe gleichkommen, wenn noch kein Verfahren zur Schuldfeststellung oder Strafbemessung stattgefunden hat".

Die Arbeit von Ermittlungsbehörden soll in der Ermittlung des Tatgeschehens bestehen und keinesfalls in der öffentlichen Demütigung und Demontage der Beschuldigten. Aber gab es da in jüngster Zeit nicht die medienwirksam öffentliche Razzia gegen den damaligen Postchef Klaus Zumwinkel wegen des Verdachts der Steuerhinterziehung? Wozu eigentlich eine eindrucksvolle Verhaftungsaktion der HIV-positiven Popsängerin Nadja Benaissa (No Angels) direkt von einer Discobühne herunter? Die junge Frau sollte wissentlich einen Mann mit dem Aidsvirus infiziert haben; sie wurde wegen Körperverletzung inzwischen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Und jetzt tobte, während des gesamten Kachelmann-Verfahrens, eine von den Ermittlungsbehörden begonnene Schlammschlacht, in der so gut wie kein Schamhaar unentdeckt bleiben konnte. Das vermutliche Motto lautete: Einer, der im Privaten solch ein Lügen-Liebesleben führt, muss einfach schuldig sein. Amerika lässt grüßen - oder doch (noch) nicht?

"Mehr Vorverurteilung geht nicht", sagt der Hamburger Rechtsanwalt Gerhard Strate, einer der bekanntesten deutschen Strafverteidiger, "denn es gibt wohl kaum jemanden, der sich noch keine Meinung über die Schuld oder die Unschuld Kachelmanns gebildet hat."

So wie Strate befürchten inzwischen nicht wenige Juristen, dass die offensive Informationspolitik der Mannheimer Staatsanwaltschaft Schule machen könnte; dass sie Ausdruck einer neuen juristischen Denkweise ist - vor allem dann, wenn es sich um prominente Verdächtige und Angeklagte sowie besonders spektakuläre Verfahren handelt. "Ein Gericht wird es sehr schwer haben, in einer solch aufgeheizten öffentlichen Atmosphäre ein objektives und, ja, gerechtes Urteil zu sprechen", sagt er und verweist auf die seiner Meinung nach "skandalöse und entlarvende Begründung" des von den Mannheimer Staatsanwälten geforderten Strafmaßes.

So sieht das Gesetz für die Taten, die Jörg Kachelmann begangen haben soll - "besonders schwere Vergewaltigung" in Tateinheit mit "gefährlicher Körperverletzung" - im Falle einer Verurteilung einen Strafrahmen von fünf bis 15 Jahren Gefängnis vor. Doch Staatsanwalt Lars-Torben Oltrogge blieb mit seinem Antrag von vier Jahren und drei Monaten Haft unter dieser Grenze und machte dafür mildernde Umstände geltend: Eine spontane Tatbegehung allein sei zwar kein Milderungsgrund, aber eine Ausnahmesituation könne angenommen werden, sagte er in seinem Plädoyer. Darüber hinaus sei Jörg Kachelmann privat und beruflich schwer beeinträchtigt, auch durch unangemessenes und ungesetzliches Verhalten von Medien. Sein Medienanwalt Höcker habe selbst dazu beigetragen, gestand Oltrogge ein. Doch auch das mutmaßliche Opfer sei schwer betroffen. Eine weitere Milderung könne darauf gründen, dass er nicht ausschließen könne, dass staatliche Organe Anteil bei der Veröffentlichung von Ermittlungsakten gehabt hätten. "Staatsanwälte dürfen Journalisten jedoch keine Akteneinsicht gewähren", sagt Strate, "man erwartet von ihnen nicht, dass sie die öffentliche Informationsgier befriedigen, und man erwartet von ihnen auch nicht, dass sie die Beschuldigten schon vor dem Urteil durch Anprangerung bestrafen."

Die Staatsanwälte könnten unprofessionell gearbeitet haben

So gesehen hört sich die explizite Anerkenntnis der nachteiligen Umstände für Kachelmann wie eine nachträgliche Entschuldigung der Mannheimer Staatsanwaltschaft an, die Teil der "objektivsten Behörde der Welt" ist, wie sich die Staatsanwaltschaft häufig selbst bezeichnet. "Für mich hat die Mannheimer Staatsanwaltschaft alle Fehler gemacht, die man machen kann. Das kann karrieristisch, das kann böswillig, das kann unfähig sein - schlechter kann man es jedenfalls nicht machen", kritisierte die Professorin Monika Frommel, Direktorin des Instituts für Sanktionenrecht und Kriminologie der Universität Kiel, in einem Interview die Auftritte von Lars-Torben Oltrogge und seinen beiden Kollegen. Auch die Parallelen zwischen dem Kachelmann-Prozess und den aktuellen Vorwürfen gegen den ehemaligen IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn seien unübersehbar: "Die Staatsanwaltschaft hat hier ähnlich schnell die Untersuchungshaft beantragt. Das finde ich bei Vergewaltigungsvorwürfen - zumindest wenn sie diffus sind, so wie in diesen beiden Fällen - völlig unprofessionell." Denn wenn Staatsanwälte die Untersuchungshaft-Karte zögen, so Frommel, stünden sie unter Zeitdruck. "Ich habe maximal sechs Monate Zeit, um die Anklage anzufertigen. Ein Glaubwürdigkeitsgutachten kann aber länger dauern. Auch im Strauss-Kahn-Verfahren wird hochspektakulär agiert, bevor solch ein Gutachten und die DNA-Spuren da sind", sagte die Professorin.

Lars-Torben Oltrogge verteidigte die Mannheimer Ermittler nach der Festnahme Kachelmanns. Dass eine dauerhafte Geheimhaltung unmöglich sei, zeige auch der Fall Strauss-Kahn, sagte er in seinem Plädoyer.

Das konfrontative amerikanische Rechtssystem ist weltweit prägend

Aber Mannheim ist nicht New York, und überhaupt unterscheiden sich die deutsche (europäische) und die amerikanische Justiz in wesentlichen Punkten. So muss eine amerikanische Staatsanwaltschaft nicht für und gegen, sondern nur gegen den Beschuldigten ermitteln; für seine Entlastung muss der Beschuldigte selber sorgen.

Und so schauten die Europäer mit einer Mischung aus Entsetzen und Neugier immer wieder auf die Livebilder eines unrasierten, übermüdeten Beschuldigten namens Dominique Strauss-Kahn, der mit Handschellen gefesselt den demütigenden "Perp-Walk" durchstehen musste. Die zuständige Richterin Melissa Jackson hatte schon bei der allerersten Vernehmung, im frühesten Stadium des Ermittlungsverfahrens, im Gerichtssaal Kameraleute zugelassen. Denn in den USA fungieren Richter bloß als unparteiliche Hüter der Unschuldsvermutung, indem sie sich aus der Beweiserhebung heraushalten und die Rolle des Schiedsrichters beim Duell zwischen Anklage und Angeklagten übernehmen. In Europa dagegen sollen Richter die unparteiliche Unschuldsvermutung aufrechterhalten, indem sie die Beweisaufnahme selbst leiten und dabei auch alle entlastenden Faktoren herausfinden sollen.

Der "Perpetrator" ist jemand, der das Verbrechen tatsächlich begangen hat, nicht der bloß Verdächtigte - und Bilder sagen bekanntlich häufig mehr als tausend Unschuldsbeteuerungen. In Amerika nimmt man de facto die Schuld des Verdächtigten vorweg, im späteren Prozess kann er sich nur noch dagegen wehren, überführt zu werden. Diese Kampfansage gegen einen Beschuldigten bestehen zu lassen und ihn der Öffentlichkeit wie eine Trophäe zu präsentieren, gehört in Amerika zum Job der Strafverfolger. In Europa wäre eine solche entwürdigende PR-Aktion der Strafverfolgungsbehörden nach derzeitiger Rechtslage ein schwerer Regelverstoß, ein Fall für den Menschenrechtsgerichtshof, und zwar unabhängig davon, ob der Beschuldigte prominent ist oder nicht. Im Übrigen genügt in der Alten Welt inzwischen ohnehin bereits der Verdacht, um Beschuldigte wie einen Verurteilten aus ihren Ämtern zu entfernen. Das betrifft vor allem Politiker, bedeutende Unternehmer oder Personen, die - wie Jörg Kachelmann - im öffentlichen Leben stehen.

Die US-Justiz hat die in allen Rechtsstaaten gültige Unschuldsvermutung auf den Grundsatz "in dubio pro reo" ("Im Zweifel für den Angeklagten") reduziert. Legt eine amerikanische Staatsanwaltschaft Beweise vor, die keine "vernünftigen Zweifel" an der Schuld des Angeklagten erlauben, ist der Unschuldsvermutung bereits Genüge getan. Diese Regel, die sich nicht auf die Würde des Angeklagten, sondern auf die Zweifelsfälle der Beweiskraft konzentriert, funktioniert jedoch nur im konfrontativen amerikanischen Strafverfahren, das in erster Linie auf Grundsatzurteilen beruht. Die europäische Maxime, den Beschuldigten möglichst unvoreingenommen zu behandeln, wird so ins Gegenteil verkehrt.

Dieses Rechtsdenken hat jedoch inzwischen eine weltweit prägende Kraft. Kritische Juristen hierzulande betrachten daher mit Sorge, dass spektakuläre Strafverfahren wie der Kachelmann-Prozess zunehmend zu einem "amerikanisierten Showdown" zwischen Anklage und Verteidigung degenerieren, wobei die Betonung auf "Show" liegt und die Anfangsregie immer häufiger von der Staatsanwaltschaft übernommen wird. Im Fokus soll dann der mutmaßliche Täter stehen, die Hände auf dem Rücken gefesselt, eingerahmt von Polizisten, als könne er jetzt noch flüchten. Nur die wenigsten Menschen, selbst die Unschuldigen, geben in dieser Lage kein Bild des Jammers ab.

Jörg Kachelmann übrigens, der sich bei der Überstellung in die Untersuchungshaft mit Handschellen filmen ließ - er und sein damaliger Verteidiger Birkenstock hätten dies verhindern können -, schaffte es, trotz gefesselter Hände unschuldig auszusehen. Als Fernsehprofi weiß er genau, wie sehr der Unterhaltungswert und der persönliche Eindruck zählen - selbst unter einem solch schwerwiegenden Verdacht, vor einem solch schweren Gang.

Auch für Gott und den Papst gilt das Prinzip der Unschuldsvermutung

"Ich gehe davon aus, dass es mehr Verstöße gegen die Unschuldsvermutung gibt als früher", vermutet Monika Frommel. Es gebe heute vor allem bei männlichen Staatsanwälten und Richtern eine Scheu, dem Opfer gegenüber misstrauisch zu sein. Diese Scheu habe es auch im Kachelmann-Verfahren gegeben. Die Kieler Juraprofessorin hat aber auch noch Hoffnung: "Vielleicht ist dieser Prozess ein Signal, die Unschuldsvermutung wieder wichtiger zu nehmen - und solche unprofessionellen Staatsanwälte nicht in Sexualstraftaten ermitteln zu lassen."

Noch ist die Justiz hierzulande für ein Urteil zuständig, nicht für ein Vorurteil. Vielleicht hilft es, an den französischen Kardinal Jean Lemoine zu erinnern, der im 13. Jahrhundert zum ersten Mal die Unschuldsvermutung definierte. Dabei begründete er mit einem einfachen Beispiel, warum sich noch nicht einmal der Papst, Gottes Stellvertreter auf Erden, sich über die Grundrechte von Beschuldigten hinwegsetzen dürfe: Denn selbst Gott, so schrieb der Kardinal, habe Adam die Gelegenheit gegeben, sich vor dem Urteil fürs Verspeisen der verbotenen Frucht zu rechtfertigen: "Die Frau, die du mir beigestellt hast, sie hat mir von dem Baum gegeben, und so habe ich gegessen." Wie wir heute jedoch wissen, hat diese Einlassung dem Adam nichts genutzt.