Muskelzerrungen sind im Sport weit verbreitet. Dr. Jürgen Küchlin, der in seiner Praxis in Eppendorf unzählige Atlethen behandelt hat, erklärt die Diagnose und wichtige Fragen um die Verletzung.

Abendblatt: Herr Dr. Küchlin, was versteht man unter einer Muskelzerrung?

Dr. Küchlin: Eine Muskelzerrung ist lediglich eine Gefügestörung von Muskelfasern. Das bedeutet, einzelne Muskelfasern haben sich als Antwort auf eine Überlastung (z. B. eine Überdehnung) reflektorisch zusammengezogen und verkrampft. Die Muskelfasern an sich sowie der gesamte Muskel bleiben intakt (im Gegensatz zum Muskelfaserriss) und auch das umliegende Gewebe und die Blutgefäße sind unversehrt.

Abendblatt: Wodurch kommt eine Muskelzerrung zustande und in welchen Sportarten treten diese bevorzugt auf?

Dr. Küchlin: Muskelzerrungen sind immer die Folge von Über-bzw. Fehlbelastungen. Häufig treten Zerrungen in Sportarten auf, in denen schnelle Antritte, Sprünge und explosive Richtungswechsel gefordert sind, wie im Fußball, Handball, Basketball und Hockey. Der Muskel wird bei diesen akuten Belastungen oftmals über sein physiologisches Maß hinaus überdehnt und reagiert mit einer Zerrung. Doch auch Marathonläufer bekommen Muskelzerrungen, provoziert durch chronische Über-bzw. Fehlbelastung der Muskeln während der Langzeitbelastungen. Falsches oder ungewohntes Schuhwerk ist in diesem Zusammenhang „Gift“ für die Muskulatur des Marathonläufers, da sich dies besonders gravierend bemerkbar macht über die lange Dauer der Läufe.

Abendblatt: An welchen Muskeln treten Muskelzerrungen am häufigsten auf?

Dr. Küchlin: Das ist sportartabhängig. Bei den gängigen Spielsportarten wie etwa Fußball und Handball sind meistens Oberschenkel und Wade betroffen. Bei Reckturnern können natürlich Zerrungen genauso am Oberkörper auftreten. Die Muskulatur, die besonders intensiv arbeiten muss, zerrt man sich am häufigsten.

Abendblatt: Woran merkt ein Sportler, dass es sich um eine Zerrung handelt?

Dr. Küchlin: Das hängt sehr von der Sensibilität des Sportlers ab, also seinem eigenen Körpergefühl. Im Falle einer Zerrung haben viele das Gefühl, dass ein „kalter Luftzug“ durch die Muskulatur geht. Der Muskel „macht zu“ und beginnt sich zu verkrampfen. Dann sollte man die Belastung unverzüglich unterbrechen, um Schlimmeres zu vermeiden. Fährt man mit dem Sport fort, können Teile des Muskels beim nächsten beherzten Antritt tatsächlich reißen (Muskelfaserriss).

Abendblatt: Was sollte man direkt nach dem Auftreten einer Muskelzerrung tun? (Erste-Hilfe-Maßnahmen)

Dr. Küchlin: Zunächst sollte man die Belastung sofort unterbrechen. Dann gilt es den Muskel zu kühlen. Am besten eine mit Eiswasser getränkte elastische Binde auflegen. Bei der Verwendung von „Cold Packs“ - diese niemals direkt auf die Haut auflegen, sondern immer in ein Tuch einwickeln. Sonst kann es an der Haut zu Erfrierungen kommen, weil sich die Blutgefäße durch die Kälte zusammenziehen; dadurch kann die Haut nicht mehr mit Blut versorgt werden und stirbt ab. Direkt nach einer Zerrung wird ein Wechselspiel aus Kühlen, leichtem Bewegen (z. B. Gehen) und Dehnen empfohlen, um die Verkrampfung zu lösen und zu lockern. Nach etwa drei Tagen ist milde Wärme ratsam, um die Regenerationsprozesse im Muskel zu beschleunigen.

Abendblatt: Sind Kompressionsverbände vorteilhaft?

Dr. Küchlin: Nein, da sich bei einer Zerrung kein Hämatom (Bluterguss mit Schwellung) bildet ist dies nicht notwendig. Wichtig ist, dass man nicht inaktiv die Genesung abwartet. Leichte Bewegungsformen sind sinnvoll. Wenn der Sportler keine Schmerzen mehr hat, dann kann er einen Tag nach der Zerrung anfangen locker zu traben oder Rad zu fahren. Zusätzlich sollte der Sportler zwischendurch immer wieder Dehnen, aber nur bis zur Schmerzgrenze.

Abendblatt: Was ist mit Massagen, Bandagen, Salben und Medikamenten?

Dr. Küchlin: Massagen sind primär nicht empfehlenswert. Auch Bandagen und Salben empfehle ich primär nicht. Die meisten Salben durchdringen kaum die Hautbarriere und kommen gar nicht im Muskel an. Hingegen können Medikamente wie Entzündungshemmer und Abschweller sinnvoll sein, sogenannte „Antiflogistika“, damit sich ein ggf. gebildetes Ödem (Gewebswasseransammlung) schneller zurückbildet.

Abendblatt: Wann ist man wieder vollkommen belastbar?

Dr. Küchlin: Das hängt von den individuellen Beschwerden des Sportlers ab. Bei einer adäquaten 1. Hilfe-Anwendung ist man in der Regel nach 3-5 Tagen wieder voll regeneriert und einsatzfähig.

Abendblatt: Bildet sich nach einer Zerrung eine Art Narbe und ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass man sich an derselben Stelle wieder verletzt?

Dr. Küchlin: Nein. Bei einer Zerrung ist nichts kaputt gegangen, daher auch keine Narbe oder Ähnliches. Es handelt sich lediglich um eine Überlastungserscheinung. Die gezerrte Stelle ist nach ein paar Tagen genauso widerstandsfähig und belastbar wie zuvor.

Abendblatt: Es gibt Sportler die sich ständig wieder zerren. Wie ist dies zu bewerten?

Dr. Küchlin: Ist dies der Fall, dann muss man herausfinden, ob eine grundsätzliche Erkrankung beim Patienten vorliegt. Ich denke hier an chronische Infekte im Körper, wie Zahnwurzelentzündungen, Mandel-oder Kieferhöhlenentzündungen usw. Es können sehr banale Erkrankungen sein, die zunächst einmal nichts mit dem Auftreten von Muskelzerrungen zu tun zu haben scheinen. In der Praxis hat sich jedoch immer wieder gezeigt, dass nach der Therapie dieser Erkrankungen auch die muskulären Beschwerden deutlich zurückgingen. Es scheint hier also einen Zusammenhang zu geben. Bei überdurchschnittlich häufig auftretenden Muskelzerrungen gilt es also zu prüfen, ob chronische Erkrankungen vorliegen und diese sich auf muskulärer Ebene auswirken.

Abendblatt: Wie kann man Muskelzerrungen vorbeugen? (Prävention)

Dr. Küchlin: Grundlage ist natürlich ein angemessenes Aufwärmen vor dem Sport mit einem integrierten Dehnprogramm. Durch die Erwärmung werden die Blutgefäße erweitert und die Muskeln werden besser mit sauerstoffreichem Blut und Elektrolyten versorgt. Dadurch können sie leistungsfähiger arbeiten und sind weniger verletzungsanfällig. Das Aufwärmen sollte auf dem Gelände durchgeführt werden, auf dem auch anschließend die eigentliche Belastung oder der Wettkampf stattfindet und man sollte schon beim Aufwärmen die Wettkampfschuhe tragen. So gewöhnt sich der Muskel schon beim Aufwärmen an die koordinativen Anforderungen, die unter Belastung an ihn gestellt werden. Dadurch ist er adäquat vorbereitet und reagiert nicht so schnell mit Verletzungen. Das Aufwärmen in langen Trainingsanzügen birgt eine Gefahr: Man sollte die langen Trainingsklamotten ausziehen sobald der erste Schweiß rinnt und sich ohne diese weiter warm machen. Tut man dies nicht, so steigt die Körpertemperatur so stark an, dass der Temperaturunterschied zwischen dem Körper und der Außentemperatur schließlich so groß ist, dass sich die Gefäße der Muskulatur zusammenziehen, sobald man die lange Trainingskleidung dann erst auszieht. Verengte Muskelgefäße bedeuten weniger Durchblutung und Versorgung des Muskels, was Verletzungen begünstigt.

Abendblatt: Kann Ernährung präventiv wirken?

Dr. Küchlin: Ja, auf eine ausreichende Elektrolytversorgung sollte in diesem Zusammenhang geachtet werden. Besonders wichtig ist eine ausreichende Magnesiumversorgung, weil Magnesium die Muskelelastizität und die Muskelentspannungsfähigkeit begünstigt. Im Sommer treten Zerrungen deutlich häufiger auf als im Winter. Grund ist ein Magnesiummangel durch vermehrte Magnesiumverluste über den Schweiß in der warmen Jahreszeit. Für Sportler ist eine Magnesiumsubstitution in Form von Präparaten ratsam.

Abendblatt: Zerrungen sind keine neuartige Verletzung und sie kommen sehr häufig vor. Warum kann man sich nicht besser vor ihnen schützen?

Dr. Küchlin: Man kann sich gut schützen, doch kaum einer tut dies konsequent. Ein Fußballer will natürlich sofort aufs Tor schießen und ein Basketballspieler springt am liebsten gleich mit in den Korb - Zerrungen sind da vorprogrammiert. Erziehung zu ein wenig mehr Professionalität würde so manche Zerrung verhindern. Meiner Meinung nach sollte als Präventionsmaßnahme der Ausbildung von koordinativen Fähigkeiten viel mehr Gewichtung zukommen. Viele Zerrungen resultieren nämlich aus ungeschickten und unbeholfenen Bewegungen der Sportler. Ein intelligenter und geschickter Muskel macht deutlich seltener Ärger.

Abendblatt: Herr Dr. Küchlin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.