„Ein stechender Schmerz - als würde man ein Messer in den Muskel gerammt bekommen.“ So beschreiben Betroffene oftmals das, was sich später in der Diagnose als Muskelfaserriss herausstellt. Sportarzt Dr. Jürgen Küchlin widmet sich dem Thema eingehend.

Abendblatt: Herr Dr. Küchlin, wann spricht man von einem Muskelfaserriss und was genau passiert dabei im Muskel?

Dr. Küchlin: Ein Muskelfaserriss ist eine organisch strukturelle Verletzung der Muskelfasern eines Muskels. Bei einem Muskelfaserriss sind einzelne Muskelfasern als Folge einer Überbelastung der Strukturen zerrissen. Zudem kommt es zu einer Schädigung der umliegenden Blutgefäße, die die Muskelfasern mit sauerstoffreichem Blut und Elektrolyten versorgen sollen. Aus diesen Gefäßen tritt Blut ins Gewebe aus, es bildet sich ein Hämatom (Bluterguss).

Abendblatt: Kann man dieses Hämatom von außen erkennen?

Dr. Küchlin: Das kommt darauf an, wo genau sich der Muskelfaserriss im betroffenen Muskel befindet. Liegt er direkt unter der Haut, so kann man zwei bis drei Tage nach der Verletzung eine deutliche Hämatombildung sehen. Sind Fasern tief im Inneren des Muskels gerissen, so ist der Bluterguss oftmals nicht von außen erkennbar. Man kann den Faserriss jedoch mit den Fingern ertasten und spürt die strukturelle Veränderung in Form einer Lücke oder Delle im Muskel. Sind große Muskeln von der Schädigung betroffen, so können nach Abklingen des Hämatoms deutlich erkennbare Einbuchtungen im Muskel entstehen.

Die exakte Lokalisation der Verletzung kann zudem mittels Sonografie und Kernspin erfolgen.

Abendblatt: Welche Muskeln sind am häufigsten von Muskelfaserrissen betroffen?

Dr. Küchlin: Dies hängt maßgeblich von den sportlichen Bewegungsformen ab. Reckturner und Volleyballer beispielsweise erleiden Muskelfaserrisse häufig im Bereich des Oberkörpers an Schultern oder Armen.

Die meisten Muskelfaserrisse werden jedoch am Oberschenkel und der Wade diagnostiziert. Grund hierfür ist sicherlich die große Zahl Sporttreibender in Spielsportarten wie etwa Fußball und Basketball.

Abendblatt: Wodurch kommt es zu einem Muskelfaserriss?

Dr. Küchlin: Ursache sind häufig Höchstbelastungen, die auf einen unvorbereiteten oder bereits ermüdeten Muskel treffen. Der Muskel ist dann nicht elastisch genug und einzelne Muskelfasern können bei einer unphysiologischen Überdehnung leicht reißen. Dies ist meist zu Beginn oder am Ende eines Spiels der Fall. Sportarten, die durch explosive Schnellkraftleistungen und abrupte Richtungswechsel charakterisiert sind (vorwiegend Spielsportarten), beinhalten ein erhöhtes Muskelfaserrissrisiko, weil hier akute Extrembelastungen für die Muskulatur auftreten.

Abendblatt: Woran merkt man als Sportler, dass es sich um einen Muskelfaserriss handelt?

Dr. Küchlin: Der Schmerz ist charakterisiert durch einen akuten, stechenden Schmerz. Betroffene schildern häufig im Moment der Verletzung fühle es sich an, als „bekäme man ein Messer in den Muskel hineingerammt“. Der Sportler muss die Belastung zwangsläufig beenden und ist auch in der Folgezeit stark schmerzgepeinigt – charakterisiert durch Bewegungs-, Anspannungs-, Druck- und Dehnschmerz.

Abendblatt: Zieht ein Muskelfaserriss bleibende Schäden nach sich?

Dr. Küchlin: Nein, in der Regel nicht. Wenn ein Muskelfaserriss richtig ausgeheilt ist, arbeitet der Muskel mit gleicher Leistung wie zuvor. Im Bereich des Risses kann es zwar zu einer lokalen Narbenbildung kommen, diese wird jedoch vom Sportler meist gar nicht bemerkt.

Abendblatt: Was sollte ein Sportler sofort nach Auftreten eines Muskelfaserrisses tun?

Dr. Küchlin: Der Sportler beendet praktisch immer schmerzbedingt sofort die Belastung. Dies ist auch ein absolutes Muss, um nicht noch mehr Strukturen zu schädigen.

Als Erste-Hilfe-Maßnahme hat sich das sogenannte PECH-Schema bewährt.

P = Pause

E = Eis

C = Compression (Druck)

H = Hochlagern

Zunächst einmal geht es darum, das Hämatom (Bluterguss) zu bekämpfen. Ein kühlender Kompressionsverband mit in Eiswasser getränkten Tüchern sorgt dafür, dass sich die verletzten Blutgefäße zusammenziehen und nicht noch mehr Blut ins Muskelgewebe austreten kann. Ein weiteres Anschwellen wird also verhindert. Blut gehört in die Blutgefäße (Adern) und nicht ins Gewebe. Im Gewebe wirkt das Blut wie „Gift“ und sorgt für Entzündungszustände, die Schmerzen verursachen.

Die verletzte Stelle sollte hochgelagert werden, um den Blutaustritt noch weiter zu reduzieren. Dies gilt aber nur für die akute Phase direkt nach der Verletzung, da der Sportler die Körperpartie in der Folge nicht „einrosten lassen“, sondern immer wieder leicht durchbewegen sollte (evtl. durch Zuhilfenahme von Unterarmgehstützen).

Abendblatt: Was sind für die Folgezeit empfehlenswerte Rehabilitationsmaßnahmen, die eine rasche Genesung unterstützen?

Dr. Küchlin: Gute Erfahrungen habe ich mit abschwellenden und entzündungshemmenden Medikamenten (Antiphlogistika) gemacht. Sie lindern die Entzündungsreaktionen im Muskelgewebe und sorgen dafür, dass das ausgetretene Blut rasch wieder abtransportiert werden kann, um die Muskelarbeit nicht weiter zu behindern. Dies ist sehr wichtig, damit der Sportler nicht schmerzbedingt in eine Art Schonhaltung mit entsprechenden Folgekomplikationen verfällt.

Massagen sollten nicht zu früh eingesetzt werden, da eine strukturelle Unterbrechung des Muskels vorliegt. Wenn der Bluterguss im Muskel durch Massagen zu früh strapaziert wird, dann können aus den Hämatomzellen knochenartige Zellen werden (Verknöcherung - „Myositis Ossificans“). Die Verletzung ist dann verheilt, doch es hat sich eine Art „ Faust-Knochen“ in der Muskulatur gebildet, der die Kontraktionsarbeit empfindlich stören kann.

Nach 14 Tagen können Massageformen wie z.B. eine Lymphdrainage im Rahmen einer physiotherapeutischen Intervention durchgeführt werden, um die Regeneration anzuregen. Milde Wärme und Dehnübungen (aber nur bis zum Schmerz) sind nach drei Wochen anzuraten.

Salben und Tapeverbände halte ich dagegen für wenig sinnvoll.

Abendblatt: Was hat eine unterlassene Erste-Hilfe-Leistung für Folgen?

Dr. Küchlin: Die Genesung dauert wesentlich länger, und die Folgezustände fallen oftmals deutlich gravierender aus. Natürlich hängt der Genesungsverlauf sehr davon ab, wie viel Aufwand man betreibt, bzw. wie viel Zeit und Geld man investieren kann. In dem Zusammenhang hängen die Nachbehandlungsmöglichkeiten auch stets davon ab, was die Krankenkassen an Kosten übernehmen, ob man Privat- oder Kassenpatient ist usw.

Abendblatt: Wie lange muss man nach einem Muskelfaserriss pausieren?

Dr. Küchlin: Dies kann sich sehr unterschiedlich gestalten und ist von den Beschwerde-Empfindungen des Sportlers abhängig. Man ist erfahrungsgemäß nach drei bis zwölf Wochen wieder vollkommen einsatzfähig. Diese große Zeitspanne betont noch einmal die Bedeutung von angemessenen Erste-Hilfe- und Regenerationsmaßnahmen. Je nachdem, was man selber „beiträgt“ und wie sorgfältig man vorgeht, kann die Zwangspause minimiert werden.

Abendblatt: Unvergessen ist die „Wunderheilung“ von Jürgen Klinsmann bei der Europameisterschaft 1996. Innerhalb einer Woche kurierte er einen Muskelfaserriss vollkommen aus und konnte im Finale wieder spielen. Wie war dies möglich?

Dr. Küchlin: Sportprofis genießen natürlich eine ganz andere medizinische Versorgung als „Normalbürger“. Sie werden rund um die Uhr mit den modernsten medizinischen Verfahren versorgt - koste es, was es wolle.

Doch trotz alledem war dies eine wirklich bemerkenswert schnelle Genesung, die so nur sehr selten vorkommt.

Abendblatt: Mit welchen Bewegungsformen sollte man wieder ins Training einsteigen?

Dr. Küchlin: Zunächst reicht vorsichtiges „Gehen“ (mit Krücken bzw. Unterarmstützen) vollkommen aus. Dies sollte nach der Durchführung der Erste-Hilfe-Maßnahmen die bevorzugte Fortbewegungsform sein. Dann sind moderates Fahrradfahren und Schwimmen zu empfehlen, da das eigene Körpergewicht dabei nicht überwunden werden muss.

In Abhängigkeit von der Schmerzempfindung des Sportlers sollte nun die Belastung behutsam gesteigert werden. Vom Gehen zum lockeren Dauerlauf, von Tempoläufen zu Sprints.

Erst wenn keinerlei Beschwerden mehr auszumachen sind, sollten dem Sportler die gewohnten Wettkampfbelastungen zugemutet werden.

Abendblatt: Wie kann man Muskelfaserrissen vorbeugen?

Dr. Küchlin: Ein adäquates Aufwärmen gepaart mit einem ausgiebigen Dehnprogramm vor dem Sport ist natürlich die Grundvoraussetzung um Muskelzerrungen vorzubeugen.

Das Aufwärmen ist auf dem Untergrund durchzuführen, auf dem die eigentliche Belastung folgt, damit der Muskel optimal vorbereitet wird. Zusätzlich ist auf hochwertiges Schuhwerk zu achten.

Doch es sollte noch grundlegender angesetzt werden - meiner Meinung nach wird noch viel zu wenig Wert auf ein präventives Koordinationstraining gelegt. Ein vielseitiges Koordinationstraining schult die allgemeine Geschicklichkeit und vermeidet daher durch Fehlbewegungen bedingte Verletzungen. Auch die Reizweiterleitung von körpereigenen Bewegungsschutzreflexen kann durch ein Koordinationstraining enorm gesteigert werden, so dass diese Schutzmechanismen angemessen zum Tragen kommen. Geeignete Gerätschaften sind z. B. Wackelbretter und Turnkreisel, auf denen vielfältige Bewegungsaufgaben realisiert werden können, z. B. einbeiniger Stand oder Jonglieren mit Tennisbällen auf dem Turnkreisel. Formen des Seilspringens sind auch sehr zu empfehlen, um koordinative Fähigkeiten zu schulen.

Saison begleitend ist zudem auf eine ausreichende Elektrolytversorgung des Sportlers zu achten. Besonders Magnesium ist wichtig für die Elastizität, Entspannungsfähigkeit und Regeneration der Muskulatur. Für Sportler ist die ergänzende Einnahme von Magnesiumpräparaten empfehlenswert, um einem Mangel vorzubeugen.

Abendblatt: Herr Dr. Küchlin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.