Die HSV-Handballer werfen im Spitzenspiel gegen den THW Kiel einen historischen und fast sicheren Sieg in den letzten Minuten noch weg.

Hamburg. Als sich Martin Schwalb und Matthias Rudolph auf dem Gang zwischen den Umkleidkabinen der O2 World begegneten, lehnten sie sich an die Wand, jeder auf einer Seite, und versuchten, den Handball zu verstehen. "Das darf doch nicht wahr sein, oder?", fragte Schwalb. Aber Rudolph, der Präsident des HSV Hamburg, gab nicht die Antwort, die der Trainer so gern gehört hätte: dass die letzten zehn Minuten des Spiels gegen den THW Kiel nur ein böser Traum waren. Er schüttelte mit dem Kopf. Dann gingen beide wieder ihrer Wege.

Nein, wirklich erklären konnte die 30:33-(15:12-)Niederlage im Duell der beiden letzten Meister hinterher niemand. Aber jeder konnte bezeugen, dass es eine Partie war, an die man sich noch lange erinnern wird. Mit 28:23 führte der HSV in der 50. Minute und strebte einem historischen Sieg entgegen. Seit Mai vergangenen Jahres hatten die Kieler in der Bundesliga nicht mehr verloren. An diesem Sonnabend also würde diese Serie ihr Ende finden, zu dieser Überzeugung musste jeder gelangen, der die Partie bis dahin verfolgt hatte. Denn der HSV kämpfte nicht nur, als ginge es in diesem Spiel bereits um die Meisterschaft; er spielte auch so auf, als sei er und nicht der THW der amtierende Meister. "Die Mannschaft hat ein ganz hohes Niveau gezeigt", sagte Schwalb.

Aber eben nur 50 Minuten lang. Dann folgte ein Einbruch, wie ihn die Hamburger in ihrer zehnjährigen Geschichte noch nie erlebt haben. Fehlpass folgte auf Fehlpass, Fehlwurf auf Fehlwurf, und nicht ein einziger davon blieb unbestraft. "Handball ist manchmal grausam", sagte Schwalb später, "wir hätten den Sieg verdient gehabt."

Natürlich machte es sich jetzt bemerkbar, dass Kiel die Abwehr umgestellt und der HSV seine Kraftreserven aufgebraucht hatte; dass Matthias Flohr sich viel zu früh drei Zeitstrafen eingehandelt und so ein Loch in die Abwehr gerissen hatte, das Blazenko Lackovic mit seinem gebrochenen Finger nicht schließen konnte; und dass es für Pascal Hens und Marcin Lijewski die erste Partie nach längerer Verletzungspause war. Beide hatten stark aufgespielt, sich am Ende aber entscheidende Abspielfehler geleistet.

"Trotzdem darf uns dieses Spiel nicht so aus den Händen gleiten", sagte Michael Kraus, "wir hatten Kiel doch im Sack." Der Spielmacher hatte sich mit einer starken Leistung für ein Comeback in der Nationalmannschaft empfohlen. Doch auch ihm wollte am Ende nichts mehr gelingen. Die Kraft? "Diese Ausrede zählt nicht. Die tolle Stimmung im Publikum setzt genug Kräfte frei."

Ganz von der Hand zu weisen ist das Argument aber nicht. Schon beim 28:28 gegen Neuhausen hatte der HSV in den Schlussminuten einen klaren Vorsprung verspielt. Es ist müßig zu spekulieren, wie es ausgegangen wäre, hätte Schwalb Lijewskis Flehen erhören und den ausgepowerten Polen auswechseln können. Aber seinem Nachwuchsmann Stefan Terzic traute der Trainer die Aufgabe offenbar nicht zu.

Auch wenn hinterher alle betonten, wie eng es doch in dieser Saison an der Spitze zugehe: Der Rückstand des HSV auf die Kieler beträgt bereits fünf Punkte. Morgen geht der Trainingsbetrieb weiter. Sofern man bei vier gesunden Feldspielern davon sprechen kann. Alle aktuellen Nationalspieler sind in dieser Woche in der EM-Qualifikation oder bei Länderspielen im Einsatz. Für die Vorbereitung auf das nächste Spitzenspiel gegen die Rhein-Neckar Löwen am 7. November bleibt somit nur eine gemeinsame Trainingseinheit. Als Gegner im DHB-Pokalachtelfinale (11./12. Dezember) bekam der HSV am Sonnabend den Zweitligisten TV Emsdetten zugelost. Schwalbs Stimmung konnte das nicht bessern: "So wie wir aufgestellt sind, wird es eine schwere Aufgabe."

Tore, HSV Hamburg: Lijewski 8, Kraus 5, Hens 4, Flohr 4, Lindberg 3 (1 Siebenmeter), Vori 2, Duvnjak 2, Nilsson 1, Petersen 1; Kiel: Jicha 8, Vujin 5 (5), Zeitz 4, Sprenger 3, Palmarsson 3, Narcisse 3, Ilic 3, Klein 2, Sigurdsson 1, Ahlm 1. Schiedsrichter: Geipel/Helbig (Teutschenthal/Landsberg). Zuschauer: 13 296 (ausverkauft). Zeitstrafen: 5; 6. Rote Karte: Flohr nach 3 Zeitstrafen (38.).