Auch dank des starken Neuzugangs startet der HSV mit einem überzeugenden 32:20-Sieg über St. Petersburg in die Champions League.

Hamburg. Oscar Carlén hatte den besten Sitzplatz eingenommen, den es in der Sporthalle Hamburg gibt: Reihe eins, Höhe Mittellinie, gleich hinter dem Kampfrichtertisch. Um ihn herum hatten sich die Zuschauer von ihren Sitzen erhoben, weil sie der Hallensprecher dazu aufgefordert hatte und weil sie überhaupt bester Stimmung waren. Carlén war es nicht, auch wenn er sich alle Mühe gab, gute Miene zu machen zum guten Spiel seines HSV Hamburg gegen den Handballklub St. Petersburg. Es hätte seinem rechten Knie ohnehin nicht gut getan zu stehen: Zwei Tage zuvor hatte sich der HSV-Neueinkauf zum zweiten Mal binnen neun Monaten das Kreuzband gerissen bei einer Trainingsbewegung, "wie er sie seit seiner Rehabilitation schon 100-mal gemacht hat", wie Physiotherapeut Niklas Albers noch einmal versicherte. Und wenn dieses erste Champions-League-Spiel eine Reaktion darauf gewesen sein sollte, dann fiel sie trotzig aus. Der 32:20-(15:10-Sieg) war eine erste Annäherung des deutschen Meisters an die Form der Vorsaison. Der dezimierte HSV leckte seine Wunden.

"Man merkt, dass wir in den vergangenen zwei Wochen Fortschritte gemacht haben", sagte Trainer Per Carlén. Die schwere Verletzung seines Sohnes habe die gesamte Mannschaft "Kraft gekostet". Und doch habe die Sechs-null-Deckung erstmals "zu hundert Prozent geklappt". Natürlich hatte Johannes Bitter mit seinen 19 Paraden auch alles dafür getan, um sie gut aussehen zu lassen. "Was hat Jogi bloß gegen mich?", haderte St. Petersburgs Trainer Dimitri Torgowanow. In seinen beiden Jahren als HSV-Profi habe er den Torhüter nie so gut erlebt. Und auf noch etwas war Torgowanow offenbar nicht vorbereitet: dass es Renato Vugrinec bei seinem Debüt gelingen würde, seinen Namen auf Anhieb in den reichen Schatz der HSV-Fansprechchöre Eingang finden zu lassen. Als der kurzfristig verpflichtete Slowene in der 49. Minute vom Feld ging - gekommen war er in der 17. -, standen drei Tore, zwei Vorlagen, zwei herausgeholte Siebenmeter, eine provozierte Zeitstrafe, ein abgefangener Ball und ein Zauberpass auf Guillaume Gille für ihn zu Buche.

Es gab nicht viele beim HSV, die auf eine vergleichbare Erfolgsbilanz verweisen konnten. Um genau zu sein: keinen. "Renato ist eine unglaublich gute Alternative und kann uns sehr weiterhelfen", lobte Matthias Flohr, dessen sechs Tore aus sieben Versuchen allerdings auch nicht vergessen werden sollten. Zu erwähnen wäre dann noch der Auftritt des jungen Kreisläufers Robert Schulze, der dreimal nachwies, dass er zur Not auch von linksaußen treffen kann.

An Vugrinec, Flohr und Schulze lag es am wenigsten, dass am Ende 26 Fehlwürfe in der HSV-Statistik zu notieren waren, mithin genauso viele wie beim russischen Vizemeister. Und wahrscheinlich hätte dieser Partie ohne sie auch etwas gefehlt. Geradezu grotesk mutete der vergebliche Versuch Andrej Ljaschenkos an, den Ball über den ausgerutschten Bitter ins fast leere Tor zu werfen - er landete an der Latte. Auch dass Hans Lindberg binnen einer halben Minute zweimal beim Siebenmeter scheitert, war bislang noch selten zu sehen. Der HSV-Rechtsaußen aber war es auch, dem die spektakulärste Aktion des Spiels gelang: Einen Abwurf von Bitter mit letzter Kraft fangend, zwirbelte er den Ball von der Torauslinie am verdutzten St. Petersburger Torwart Gennadij Komok vorbei ins Netz.

Morgen wird der HSV ohne Bitter auskommen müssen: Für das Bundesligaspiel gegen Hüttenberg (19 Uhr, O2 World) ist der Torhüter gesperrt. Auf Carlén aber werden die Hamburger wohl noch die gesamte Saison verzichten müssen. Wann und wo der schwedische Linkshänder operiert wird, soll nach weiteren Untersuchungen entschieden werden. Mannschaftsarzt Oliver Dierk rechnet mit einer neunmonatigen Pause: "Die Revision eines Kreuzbandes dauert per se länger, als wenn es das erste Mal reißt." Von einem drohenden Karriereende aber könne keine Rede sein, selbst wenn Carlén in Jugendjahren bereits am linken Knie einen Kreuzbandriss erlitten hatte. "Es mag bei solchen Häufungen einen genetischen Faktor geben", sagt Dierk, "aber es gibt auch den Faktor 'Shit happens'."

Tore, HSV: Flohr 6, Lackovic 5, Lindberg 5 (2 Siebenmeter), B. Gille 4, Schulze 3, Vugrinec 3, Duvnjak 2, Schröder 1, G. Gille 1, Vori 1, Hens 1; St. Petersburg: Nasirow 4, Schindin 3, Pronin 2, Ljaschenko 2, Gabojew 2, Poljakow 2, Samarskij 1, Tscheslow 1, Orlow 1, Sanaschkin 1, Muchin 1 (1). Schiedsrichter: Nybo/Poulsen (Dänemark). Zuschauer: 2397. Zeitstrafen: 2; 4.