Im Juni verlor Karol Bielecki ein Auge. Am heutigen Mittwoch spielt der 28-Jährige mit den Rhein-Neckar Löwen in Hamburg Bundesliga-Handball.

Hamburg. Karol Bielecki hat dann doch nicht angerufen. Wilfried Hannes hatte es ihm angeboten, falls er ein wenig Halt suche oder auch nur einen Rat. Aber insgeheim ahnte er schon, dass der Anruf ausbleiben würde: "So wie ich ihn erlebt habe, bin ich davon ausgegangen, dass er ein Kämpfer ist und offensiv mit seinem Schicksal umgeht." Hannes, 53, dürfte vor fünf Monaten einer der wenigen Menschen gewesen sein, die es für möglich gehalten hätten, dass Bielecki heute Abend mit der Mannschaft der Rhein-Neckar Löwen zum Spitzenspiel der Handball-Bundesliga beim Tabellenführer HSV Hamburg aufläuft (20.15 Uhr/Sport1). Und dass fast alles so sein wird wie bei Bieleckis letztem Auftritt in der O2 World am 11. April, dem verlorenen Pokalfinale. Nur die Schutzbrille in seinem Gesicht wird daran erinnern, dass er zwei Monate später in einem Testspiel der polnischen Nationalmannschaft bei einem Zweikampf sein linkes Augenlicht verlor.

Hannes war neun, als er wegen eines Tumors auf einem Auge erblindete. Trotzdem brachte er es auf 309 Einsätze in der Fußball-Bundesliga. Er wurde zweimal deutscher Meister, gewann den Uefa-Pokal und gehörte zum Kader der deutschen Nationalmannschaft, die 1982 im WM-Finale stand. Er sagt: "Entscheidend ist der Wille, es den Leuten zu zeigen, dass es eben doch geht."

Karol Bielecki, 28, hat diesen Willen gehabt. Bis zu seinem verhängnisvollen Unfall galt der 2,02-Meter-Mann mit dem rotblonden Kurzhaarschnitt als einer der besten Rückraumspieler der Welt. Johannes Bitter, der Nationaltorhüter des HSV und einst Bieleckis Mannschaftskollege in Magdeburg, nennt den Polen beispielhaft für einen Spieler, dessen Würfe nicht nur extrem hart, sondern auch kaum auszurechnen sind. Die Bundesliga-Statistik weist für Bielecki nach zwölf Partien eine durchschnittliche Quote von 3,6 Toren aus. Es ist exakt der Wert, den er am Ende der vorvergangenen Saison hatte. "Karol ist immer noch der wichtigste Mann im Rückraum der Löwen", sagt sein Berater Mariusz Czok. Er bringe auch mit halber Sehkraft volle Leistung.

Im Handball ist das Phänomen Bielecki beispiellos. Jason Olafsson, ein isländischer Nationalspieler, musste 1998 im Alter von 26 Jahren seine Handballkarriere beenden, als er bei einem Zweitligaspiel infolge eines Ellbogenchecks ein Auge verlor. Auch Bielecki haben die Fachleute wenig Mut gemacht. "Berufe, bei denen es auf räumliches Sehen ankommt, kann man mit nur einem Auge nicht mehr ausüben", sagt Rüdiger Schwartz, Oberarzt am UKE. Im deutschen Sozialgesetzbuch ist für den Verlust eines Auges ein Behinderungsgrad von 25 festgeschrieben. Die Verwaltungsberufsgenossenschaft hat Bieleckis Unfall anerkannt, über den Verein ist der Halblinke gegen Arbeitsunfähigkeit versichert. Bielecki hat sich damit nie beschäftigt. Er sagte: "Ich will wieder so gut spielen wie früher - oder noch besser."

Drei Monate, so schätzen Mediziner, brauche das Gehirn, um sich nach dem Verlust eines Auges an die neue Situation zu gewöhnen. Bielecki kam anfangs kaum eine Treppe hoch, ohne das Gleichgewicht zu verlieren. Er musste das Werfen und Fangen neu üben und lernen, das eingeschränkte Blickfeld durch eine stärkere Drehung des Kopfes auszugleichen. In den ersten Testspielen will er gespürt haben, wie die Zuschauer nur darauf warteten, dass er den Ball fallen ließ oder vorbeiwarf. Aber dann landete Wurf um Wurf im Tor mit der Härte und Präzision, für die er immer bekannt gewesen ist. "Er war selbst überrascht, wie schnell er die Koordination wiedergefunden hat", weiß Czok zu berichten. Dies sei auch seinem Mannheimer Verein zu verdanken, der ihm jede denkbare Unterstützung gewährt habe.

Inzwischen sei Bielecki in seinem Alltag angekommen. Er fahre Auto, suche die Normalität und kein Mitleid. Interviewwünsche werden vom Verein abgelehnt, die Medien waren ohnehin nie Bieleckis Welt. Er will seine Leidensgeschichte nicht wieder und wieder erzählen müssen, sondern den Blick nach vorn richten, immer geschützt von der großen Kunststoffbrille, damit dem gesunden Auge ja nichts passiert.

"Karol hat früh erkannt, dass es Schlimmeres im Leben gibt", sagt Czok, der seitdem eine andere Wahrnehmung Bieleckis hat: "Einige Werte haben sich bei ihm neu sortiert." Das Wichtigste aber: Der Handball aber ist Karol Bielecki geblieben.