Der 40-Jährige spricht über Erfolg, Druck und Depressionen, erklärt die Rolle seiner Frau, seinen Beruf und eine “Unwetter-Taktik“.

Abendblatt: Herr Stanislawski, sollen wir Sie mal kneifen?

Holger Stanislawski: Weshalb?

Im November 2006 übernahmen Sie als Interims-Trainer einen allenfalls durchschnittlichen Regionalligisten. Wenn heute Saisonende wäre, würden Sie mit St. Pauli in der kommenden Serie einen Bundesligaklub trainieren .

Ja, es ist schon sehr viel sehr schnell passiert. B-Schein gemacht, A-Schein gemacht, Fußballlehrer-Lizenz erworben. Und wenn ich sehe, wo wir jetzt stehen und wie wir da stehen, dann muss ich mich schon in einigen ruhigen Momenten fragen, ob das alles wahr sein kann.

Wo finden diese Momente statt?

Nach Heimspielen, alleine im Auto. Oder auf dem Weg zu Spielbeobachtungen. Natürlich auch Zuhause, wo ich mich dann ein paar Stunden rausnehme und frage, was hier in den letzten drei Jahren eigentlich passiert ist.

Wird Erfolg da selbstverständlich?

Wer drei Jahre einen steilen Aufstieg erlebt, vergisst schnell. Was mich aber am meisten geprägt hat, war die schlechteste Phase, die der Verein je hatte und die ich als Präsidiumsmitglied miterlebte. Wir kamen 2004 zwei, drei Mal pro Woche zusammen und wussten nicht wie wir Spielergehälter oder Müllabfuhr bezahlen sollten. Ich bin ein gebranntes Kind. Wir haben zu Rückrundenbeginn nicht umsonst wochenlang überlegt, ob wir den Rasen tauschen. Es wird ganz bewusst kein großes Risiko mehr eingegangen. Und wir werden Dinge anschieben auch auf die Gefahr hin, dass wir dadurch fußballerische Qualität nicht bekommen.

Steine statt Beine?

Ja. Infrastruktur und Personal, das den Klub nach vorne bringt: Scouting, medizinische Abteilung und so weiter.

Auch einen neuen Co-Trainer?

Ich würde gerne noch jemanden mit ins Boot nehmen. Ganz Deutschland fordert, auf den Nachwuchs zu setzen. Aber die Betreuung der jungen Leute zwischen 17 und 22 Jahren kommt zu kurz. Ich hätte gern einen Trainer, der sich ganz speziell um diese Spieler kümmert. Der als Ansprechpartner fungiert, mit ihnen Video-Analysen und Extra-Training macht und so was wie die Briefkasten-Omi ist. Gerade im Erfolg wollen wir weiter wachsen.

Sind Sie auf den Moment der ersten Krise gedanklich eingestellt?

Ich bin zu lange im Profigeschäft dabei, als dass ich nicht weiß, dass es auch anders laufen kann und wird. Das ist der Unterschied zu Trainern, die nicht selbst gespielt haben. So schnell es manchmal hinauf geht, so schnell kann es auch bergab gehen. Ich finde diese Situationen aber auch sehr spannend. Als wir jetzt mal drei Spiele in Folge verloren hatten, habe ich mich selber reflektiert: Wie gehst du damit um? Änderst du dich als Typ? Das hat was. Man kann daraus lernen.

Das Ergebnis?

Ich habe mich nicht verändert, bin sogar eher noch ruhiger geworden. Ich bin mir sicher, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Ich weiche nicht von meiner Philosophie ab.

Dennoch hielten Sie nach der dritten Niederlage in Folge eine Brandrede.

Ich habe mir meine Gedanken gemacht und gesagt: Moment mal! Irgendwas musst du jetzt ändern, sonst bricht dir diese super Saison weg. Der Cut musste einschneidend sein, auch in der Außenwirkung. Wenn ich sage, ich rufe dich morgen an, mache es aber nicht, dann kann ich mich entschuldigen. Wenn ich aber sage, ich gebe dir 5000 Euro wenn ich es nicht tue, nur dann setze ich mich unter Druck. Und genauso war es mit der Rede. Der Fokus lag auf mir.

Sie wählten bewusst die große Bühne?

Mannschaft, Verein, Sponsoren, Medien. Das gehört alles zusammen. Es ist doch auch ein Unterschied für Sie, ob Sie mit uns nach Ahlen fahren oder ins Westfalenstadion dürfen und über St. Paulis Rückkehr in die Bundesliga vor 80 000 Zuschauern schreiben. Da zittert doch heute schon der Stift.

Beziehen Sie Ihre Ehefrau in solche Überlegungen mit ein?

Man hat als Cheftrainer sehr wenige Personen, denen man vertrauen kann. Und mit denen tauscht man sich aus. Das ist mein Funktionsteam, und das ist natürlich auch der Lebenspartner. Meine Frau ging ja schon ans Millerntor, da habe ich noch in Bramfeld gespielt. Sie gibt mir eine andere Sichtweise, weiß wie der normale Zuschauer ein Spiel gesehen hat. Da kommen dann ein paar Interna von mir dazu, und dann ergibt sich ein Bild.

Hat sie schon einmal konkret eine Entscheidung beeinflusst?

Ja, sehr oft sogar bei der Mannschaftsaufstellung. Sie sagt, wer spielen sollte, und genau das Gegenteil mache ich. Aber im Umgang mit den Spielern ist sie tatsächlich eine große Hilfe. Wenn ich Profis plus Funktionsteam und Jugendspieler nehme, dann bin ich bei 45 Leuten, um die ich mir Gedanken machen muss. Da geht natürlich mal das eine oder andere verloren. Sie erinnert mich dann, mit wem ich mich mal hinsetzen und reden sollte. Frauen denken eher an das Persönliche.

Sie machen sich viele Gedanken um die Trainingsgestaltung, lassen sehr viel in kleineren Gruppen trainieren. Woher kommt diese Philosophie?

Beim Lehrgang in Köln habe ich mich gefragt, was individuelles Training genau bedeutet. Wie kann ich trainieren, um stärker auf Schwächen und Stärken jedes Einzelnen eingehen zu können? Stichwort Technikschulung. Einige Spieler brauchen eine ganz andere Technik. Aber für eine einfache Übung brauchst du 2500 Wiederholungen, damit es sich im Gehirn festsetzt. Wie soll ich das schaffen, wenn ich 25 Mann auf dem Platz habe. Da war klar, dass wir in Gruppen üben müssen.

Ein Prinzip, das Sie immer mehr verfeinert und erweitert haben.

Es wird ab Sommer weitere Gruppen geben. Wir werden eine Explosiv-Kraft-Gruppe aufmachen. Da kommt jemand aus dem Kampfsportbereich hinzu. Fußballer denken, sie könnten eine Häuserwand eintreten, weil sie den ganzen Tag schießen. Aber die Kraft eines Kampfsportlerbeins ist noch einmal etwas ganz Anderes.

Woher nehmen Sie diese Ideen?

Man muss die Jungs immer wieder anders beschäftigen und geistig fordern. Wir sind auch Entertainer und Schauspieler. Eine Mannschaft körperlich fit zu bekommen, ist keine Kunst. Die Schwierigkeit ist, Dinge so zu verpacken, dass die Spieler den Zusammenhang noch gar nicht erkennen, ich aber weiß, was im Ergebnis herauskommen wird. Dieser Effekt, dieses Nachdenken, das ist wichtig.

Wann entschieden Sie sich, Offensivfußball spielen zu lassen?

Bereits im ersten Spiel habe ich offensiver aufgestellt. Die Philosophie war schon immer in meinem Kopf. Hinzu kommt die taktische Flexibilität. Da muss man den Spielern, die eine Menge Geld verdienen und relativ viel Freizeit haben, einiges abverlangen. Da erwarte ich, dass sie in allen Bereichen geschult sind. Wer das nicht ist, kann bei uns keinen Profifußball spielen.

War das Traineramt immer Ihr Ziel?

Ich bin gelernter Masseur und hatte vor, Rehabilitations- und Präventionstrainer zu werden. Schon als Spieler habe ich mich mit Verletzungen und Aufbautraining beschäftigt. Und diesen Wunsch gibt es immer noch. Zum Trainerjob habe ich mich erst im April 2007 entschieden. Und wenn wir den Aufstieg nicht geschafft hätten, wäre ich Sportchef geblieben.

Haben Sie sich den Job als Spieler so schwierig vorgestellt?

Das kommt darauf an, wie man ihn auffasst. Ich gehöre eher zu den Trainern, die schwer abschalten können und neue Ideen haben. Es ist unheimlich zeitaufwändig. Aber wenn die Dinge greifen, bringt es sehr viel Freude.

Haben Sie Angst vor einem Burn-out?

Ich merke, dass der Akku fast leer ist. Ich muss mich jeden Tag pushen. Es kommt immer häufiger vor, dass ich zu Hause sitze und gedankenverloren aus dem Fenster schaue.

Entspannen Sie in der Sommerpause wieder auf Sylt?

Ja, Ende Mai geht es für zwölf Tage auf die Insel. Zwar fährt KaPe (Co-Trainer Nemet, d.Red.) mit seiner Frau auch mit, aber da unterhält man sich dann anders über Fußball. Wir wollen zur Ruhe kommen und chillen.

Hat sich nach Robert Enkes Suizid etwas im Fußball geändert?

Wenn im Umfeld jemand einen Herzinfarkt erleidet und stirbt, dann hinterfragt sich jeder und sagt, dass er zuviel raucht oder zuviel Stress hat und etwas ändern will. Das hält dann für vier Wochen. Bei Enke war es genauso. Für mich war das sehr lehrreich. Auch die Situation, als ich mit "Biere" ins Klinikum-Nord gefahren bin, wo er stationär untergebracht wurde. Da habe ich viel für mich herausgezogen.

Ihr Spieler Andreas Biermann leidet an Depressionen. Wie groß ist die Angst, dass er sich etwas antut, wenn Sie ihm keinen neuen Vertrag geben?

Die Schwierigkeit ist, dass du solche Menschen nicht in Watte packen darfst. Es bringt nichts, wenn wir ihn hier unter eine Schutzglocke stellen, und zu Hause ist das normale Leben.

Wie belohnen Sie sich beim Aufstieg?

Mit freier Zeit.

Die hätten Sie auch als Tabellenvierter. Wären Sie enttäuscht, wenn es mit der Bundesliga nicht klappen würde ?

Mit Sicherheit. Man wäre sonst kein guter Sportsmann. Aber ich habe immer für den Fall des Nichtaufstiegs schon einige Sachen im Kopf, die man dann ändern wird und vielleicht eine ganz neue Philosophie entwickelt.

Aktuell warten zwei Top-Spiele. Bislang gingen die regelmäßig verloren...

Wir haben uns etwas einfallen lassen, werden besondere Ansprachen machen und die Abläufe modifizieren. Ich stehe am Spieltag um halb sieben auf, spiele Solitär. Und dann kommt zum Beispiel die Unwetter-Taktik.

Wie bitte?

In der Besprechung hängt ein großer Zettel an der Wand. Die Jungs sehen nur die Überschrift: "Unwetter-Taktik". Da denk dann jeder: Oh Gott, was hat der Alte denn jetzt schon wieder für eine Idee. Dann müssen sie die Augen schließen und wir schalten den Ghetto-Blaster an. Da gibt es ein Lied von Scooter, das beginnt mit einer ganz tiefen Stimme und schafft Atmosphäre. Dann lese ich die Aufstellung vor und anschließend einen Text: "Am Anfang war die Eiszeit. Eine Sturmflut für die letzten Spiele. Wie ein Hurricane werden wir über den Platz fegen. Mit Blitz und Donner wird es heute beim Gegner einschlagen. Über die Außenbahnen werden wir mit einer Flutwelle über den Gegner kommen.

Wann bitte denkt man sich das aus?

Morgens sind meine Gedanken immer sehr frisch. Das ist wie mit dem Warmtanzen am Heimspieltag. Draußen ist blauer Himmel, die Vögel zwitschern, der Hund (eine Labrador-Dame, d.Red.) wedelt. Dann haut man mal Scooter in den CD-Player - und Attacke. Ich tanze dann mit meinem Hund. Da bringe ich mich in Stimmung.

Keine Angst vor Autoritätsverlust?

Letztlich ist es die Kunst eines Trainers, den Spielern jeden Tag etwas zu vermitteln. Wir sind Fußball-Lehrer und sollten nicht immer nur "Kämpfen! Grätschen! Laufen!", fordern. Das erwarte ich sowieso von jedem. Du musst kreativ sein. Wir trainieren 330 Mal im Jahr, das Spiel ist das Highlight. Training ist Konzentration und Vorbereitung auf dieses. Wir haben praktisch jede Woche Geburtstag. Aber jede Woche die gleiche Feier ist blöd. Jede Woche Topfschlagen ist blöd. Dann mal Sackhüpfen zu machen tut gut.

Ein Trainer als Pädagoge, Stratege, Entertainer und Schauspieler?

Ein bisschen Ahnung vom Fußball wäre auch nicht schlecht.

Holger Stanislawski: 17 Jahre FC St. Pauli: Der Hamburger begann seine Laufbahn beim Bramfelder SV und gelangte über den HSV, Barsbütteler SV und SC Concordia 1993 zum FC St. Pauli. Als Abwehrspieler bestritt er 260 Ligaspiele, davon 79 in der Bundesliga. Im Anschluss an die 2004 verletzungsbedingt beendete Karriere machte der gelernte medizinische Bademeister eine Ausbildung zum Sportfachwirt, arbeitete als Manager und gehörte dem Präsidium an. Nach der Entlassung von Andreas Bergmann übernahm er das Regionalligateam am 20. November 2006 zunächst interimsmäßig als Trainer und führte es in drei Jahren an die Schwelle zur Bundesliga.