Der Trainer und Sportdirektor Oliver Kreuzer fordern im Abstiegskampf gebetsmühlenartig mehr Eigenverantwortung und Initiative von den HSV-Profis. Doch die Aufbruchstimmung der Strukturreform HSVPlus ist schon wieder vorbei.

Hamburg. Die sieben Profis trabten langsam um den vom Schnee befreiten Trainingsplatz an der HSV-Arena. Eine Runde. Und noch eine Runde. Rafael van der Vaart und der kleine Rest der Stammspieler sahen in ihren schwarzen Trainingsanzügen aus wie eine rast- und orientierungslose Trauergemeinde. Als die Spieler doch von Rehatrainer Markus Günther erlöst wurden, schlichen sie schweigend vom Platz. Manchmal braucht es keine Worte, um zu wissen, wie es um eine Fußballmannschaft steht.

Noch vor einer Woche schien sich beim HSV Aufbruchstimmung breitzumachen, nachdem die Initiative HSVPlus eine überwältigende Mehrheit bei der Mitgliederversammlung erhalten hatte. Doch ein 0:3 gegen Schalke und die Siege der Konkurrenten aus Nürnberg, Freiburg und Frankfurt genügten für einen radikalen Stimmungssturz. „Es wird langsam eng. Wenn wir so weiterspielen, steigen wir ab“, fasste der Kapitän die resignative Atmosphäre zusammen, die am Volkspark um sich greift. HSV Minus.

Die leidgeprüften HSV-Anhänger werden sich nicht nur an die Saison 2011/12 (15., 36 Punkte) erinnern, als ihrem Verein letztmals der Gang in die Zweite Liga drohte, sondern an den Winter 2007. Damals musste Thomas Doll nach dem 1:1 gegen Cottbus am 19. Spieltag gehen. Huub Stevens übernahm das Team auf Platz 18 (15 Punkte) und führte die Hamburger noch auf Rang sieben. Ein kleines Wunder, das in diesem Jahr (16./16 Punkte) kaum wiederholbar scheint. Vielmehr scheint sich die Angst vor dem Abstieg wie ein schwerer, undurchdringlicher Mantel über den ganzen Club zu legen.

Wie „brave Schulkinder“ hätten sich die Spieler ihrem Schicksal ergeben, kritisierte Sportchef Oliver Kreuzer am Montag: „Nur über die spielerische Klasse zu kommen, reicht in dieser Situation nicht.“ Aber rustikal könne das HSV-Team gar nicht spielen, das sei nicht sein Charakter. Die nur acht Fouls in 90 Minuten seien ein Signal dafür.

Gut möglich, dass Neuzugang Ouasim Bouy am Sonnabend in Hoffenheim im defensiven Mittelfeld eine Chance bekommt. Vom 20-jährigen Niederländer erhofft sich die sportliche Führung den zuletzt fehlenden Schuss Aggressivität. Doch seine fehlende Matchpraxis (nur ein Pokaleinsatz für Juventus Turin) beinhaltet ein kaum zu kalkulierendes Risiko, das van Marwijk aber womöglich bewusst eingehen wird, nach dem Motto: Schlimmer kann es sowieso nicht werden. Wieder stellte Kreuzer am Montag auch die Qualitätsfrage: „Ich darf Fehler machen, aber nicht fünf- oder zehnmal.“ Die Spieler müssten lernen, in der Defensive 90 Minuten hoch konzentriert zu bleiben, denn „derzeit leben wir vom Prinzip Hoffnung, dass schon nichts passiert“.

Mehr Eigenverantwortung und Initiative fordern Kreuzer und vor allem auch Trainer Bert van Marwijk gebetsmühlenartig in der Kabine, besonders von den Nationalspielern. Aber von Führungsqualitäten ist kaum etwas zu sehen beim HSV: „Das ist mir noch zu wenig, da kann noch mehr kommen“, gesteht auch Kreuzer. „Ich kann nicht für mich in Anspruch nehmen, ein Führungsspieler zu sein, und dann die Leistung nicht bringen.“ Gegen Schalke waren es Marcell Jansen und Heiko Westermann, die in den entscheidenden Szenen versagten.

Trainingsfrei am Dienstag - Van Marwijk nach Holland

Alarmierend ebenfalls, dass die Hamburger in 90 Minuten nur 112,04 Kilometer unterwegs waren – sechs Kilometer weniger als die Schalker Mannschaft. Da wirken Ankündigungen wie die von Kreuzer, man werde hart arbeiten vor dem Hoffenheim-Spiel, wenig überzeugend. Der heutige Dienstag ist jedenfalls trainingsfrei. Aber während Thorsten Fink während seiner Amtszeit scharf attackiert wurde, wenn er nach Niederlagen die Heimreise nach München antrat, reist sein Nachfolger jetzt in seiner Freizeit nach Holland.

Erschwerend kommt das Verletzungspech hinzu. Wie erwartet wurde bei Pierre-Michel Lasogga (neun Saisontore) ein Faserriss im hinteren linken Oberschenkel diagnostiziert. Der Hertha-Leihstürmer fehlt damit nicht nur in Hoffenheim und gegen Berlin, sondern womöglich auch im Pokalviertelfinale gegen den FC Bayern (12. Februar). Das mit Maximilan Beister, Tomas Rincon und Johan Djourou bereits gut belegte HSV-Lazarett wurde mit Zhi Gin Lam weiter verstärkt, der eine Bänderdehnung und Prellung im Sprunggelenk erlitt und einige Wochen ausfällt.

Normalerweise versucht ein Verein in einer solchen Phase, mit frischen Kräften die Negativspirale aufzuhalten. In der Theorie hat der HSV noch vier Tage Zeit, um den passenden Retter zu finden, zu finanzieren und zu verpflichten. Anders als beispielsweise 2007, als in höchster Not noch Ivica Olic und Frank Rost geholt wurden, wird dies in der Praxis schwer möglich sein. Denn obwohl Kreuzers kategorisches Nein zu Neuverpflichtungen vom Sonntag am Montag zumindest etwas aufgeweichter klang („Normalerweise passiert nichts mehr“), scheint ein erneuter finanzieller Kraftakt bereits am Veto im eigenen Vorstand zu scheitern.

Für den Fall der Fälle will Kreuzer aber vorbereitet sein. Er hat sich nach Abendblatt-Informationen auf der Suche nach einem Stürmer erneut mit Ola Johns Berater Mino Raiola kurzgeschlossen. Der Agent hatte dem HSV neben John auch Ouasim Bouy zum Nulltarif besorgt und soll nun erneut sein internationales Netzwerk spielen lassen. Interessantes Detail: Raiola, der in der Szene nach dem Skandal in Italien, in den er verstrickt war, nicht den besten Ruf genießt, hatte van Marwijk vor dessen HSV-Engagement im Ausland vertreten. So führte Raiola im Auftrag van Marwijks auch Verhandlungen mit Galatasaray Istanbul.

Gedanken müssen sich offenbar auch die Verantwortlichen um den Zuspruch der eigenen Zuschauer machen. Gegen Schalke hatten die Fans bereits nach einer Stunde mehr als genug gesehen, zehn Minuten vor Schluss war das Stadion bereits zur Hälfte geleert. „Niemand sollte die Situation unterschätzen. Die Leute sind einfach genervt von dem Dauerzustand im Tabellenkeller“, sagt Supporters-Chef Christian Bieberstein, dessen Mitgliederorganisation vor zwei Jahren mit ihrer „Jetzt erst recht!“-Aktion maßgeblichen Anteil am Zusammenhalt zwischen Anhängern und Mannschaft hatte, der letztendlich zum hart erkämpften Klassenerhalt führte. „Es gibt momentan eine negative Grundstimmung“, sagt Bieberstein, der gleichzeitig davor warnt, bereits nach dem 18. Spieltag in Panik zu verfallen: „Ich persönlich habe noch keine Angst vor einem drohenden Abstieg, aber auch ich bin genervt, dass man die ganze Saison eigentlich schon wieder abhaken kann.“

Der Vertrag von Trainer Bert van Marwijk gilt nur für die Bundesliga

Doch was passiert eigentlich, wenn der „Worst Case“ doch eintritt? Trainer van Marwijk, erst im vergangenen September als Retter für den glücklosen Thorsten Fink verpflichtet und mit einem Vertrag bis 2015 plus Option ausgestattet, dürfte kaum den Weg in die Zweite Liga mitgehen. Im Gegensatz zum Großteil der Spieler gilt sein Vertrag ohnehin nur für die Bundesliga.

Bei den Profis ist die Vertragssituation komplizierter. HSV-Chef Carl Jarchow widerspricht der Annahme, dass alle Spielerverträge in der Theorie auch für die Zweite Liga bei gleichen Bezügen gelten, der Verein aber eine Kündigungsoption hätte. „Das stimmt so nicht“, sagt Jarchow, „einige Spieler haben nur für die Bundesliga, andere für beide Ligen Vertrag.“ Und der Vorstand? Vorgänger Bernd Hoffmann und Ex-Sportchef Dietmar Beiersdorfer hatten immer nur einen gültigen Vertrag für den Verbleib in der Bundesliga. Und Jarchow, Joachim Hilke, Oliver Kreuzer und Oliver Scheel? „Ganz ehrlich“, antwortet Jarchow, „ich weiß es nicht. Das ist das Letzte, worüber ich mir Gedanken mache.“ Er hat schließlich genug damit zu tun, den HSV aus dem Minus wieder ins Plus zu führen.