Ehrgeizling, Egomane, Erfolgsgarant. Der Hamburger SV setzt mit Sammer auf einen Sportdirektor, den der Verein so noch nie hatte.

Hamburg. Dirk Sammer ist nicht verwandt, verschwägert, befreundet oder auch nur bekannt mit Matthias Sammer. Und trotzdem weiß der Namensvetter des früheren Nationalspielers wie kein Zweiter, wie groß derzeit die Euphorie in Hamburg um den designierten Sportdirektor des HSV ist. Als sich am Dienstagabend unter Medienvertretern das Gerücht herumgesprochen hatte, dass Matthias Sammer bereits in Hamburg sei, wurde gleich mehrfach im HSV-Mannschaftshotel Elysée an der Rotenbaumchaussee angerufen und nach einem Herrn Sammer gefragt. Statt Matthias meldete sich am anderen Ende der Leitung stets ein freundlicher "Sammer, Dirk Sammer", der statt den HSV die Tagung der Media-Markt-Gruppe in der Hansestadt besuchte.

Namensvetter Matthias war dagegen nicht in Hamburg, noch nicht. Wie das Abendblatt erfuhr, hatte sich der 43-Jährige am frühen Dienstag mit einer Delegation des neuen Aufsichtsrats zwei Autostunden südlich von Hamburg getroffen, um noch offene Fragen seines bevorstehenden Engagements beim HSV zu klären. "Wir sind vollkommen überzeugt von seinem Konzept, er steht für Leidenschaft und Kompetenz", schwärmte Aufsichtsratsvize Alexander Otto, der seit Wochen die Verhandlungen führt. Die einzige Hürde, die es jetzt noch zu überspringen gilt, ist Sammers familiäre Situation. Der Familienmensch lebt mit Ehefrau Karin und seinen Kindern Sarah, Marvin und Leon in München-Grünwald, tut sich mit dem angedachten Ortswechsel von der Isar an die Elbe noch schwer. Letzte Detailfragen mit seinem Noch-Arbeitgeber, dem Deutschen Fußball-Bund, will der bisherige DFB-Sportdirektor dagegen bis zur morgigen Präsidiumssitzung des DFB um 11 Uhr klären. Ist bis dahin auch die Familiensituation zufriedenstellend beantwortet, soll noch in dieser Woche sein Wechsel zum HSV offiziell bestätigt werden.

Bleibt nur die Frage, was dieser Sammer - mit Vornamen Matthias - eigentlich für ein Mensch ist, dass er es schafft, eine Stadt wie Hamburg so in Aufregung zu versetzen.

Wer sich ernsthaft auf Spurensuche begibt, muss weit zurückgehen. So erzählt Sammer, der immer als nüchtern und analytisch beschrieben wird, gerne und gefühlvoll, wie er schon sehr früh als Kind durch seinen Vater Klaus mit Fußball in Berührung kam. Er habe sich immer unter dem Wohnzimmertisch versteckt und gelauscht, wenn sein Vater - ein 17-maliger Auswahlspieler der DDR - Mannschaftskollegen in der Dresdner Altbauwohnung in der Wallstraße 15 zu Besuch hatte. Sammer junior hörte genau zu, wenn Sammer senior mit seinen Freunden über Taktik und Technik philosophierte, über neue Entwicklungen im Weltfußball sprach und sich über die letzte Dynamo-Aufstellung stritt. "Ich habe versucht, alles aufzuschnappen", sagte Sammer vor Jahren einmal der "Bild am Sonntag". Seine Mutter Dörte habe an diesen Abenden größte Schwierigkeiten gehabt, ihren Filius ins Bett zu bringen. Wenn sich Sammer etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann wollte er das durchsetzen.

So war es Jahre später auch nur Sammers extremer Erfolgssucht zu verdanken, dass Berti Vogts' bestenfalls mittelmäßige Mannschaft 1996 in England Europameister wurde. Der später als Europas Fußballer des Jahres ausgezeichnete Mittelfeldstratege dominierte das deutsche Spiel wie zehn Jahre zuvor Diego Maradona das Spiel der argentinischen WM-Elf von 1986. "Matthias Sammer war unbestritten unser damaliger Anführer", erinnert sich Kaiserslauterns Klubchef Stefan Kuntz, der bei Deutschlands Finalsieg gegen Tschechien gemeinsam mit Sammer auf dem Platz stand. Der ehrgeizige Sammer war der wahre Erfolgsgarant der Europameister, der stets lächelnde Oliver Bierhoff, der in der Verlängerung das Golden Goal zum 2:1-Sieg schoss, war in der Wahrnehmung der Fans das Gesicht des Erfolgs. Eine Tatsache, die Sammer bis heute ärgert.

Ein einziger Titel hat den Rotschopf allerdings noch nie zufriedengestellt. Der Familienvater wurde zweimal deutscher Meister mit Borussia Dortmund, gewann die Champions League und den Weltpokal. Wirklich genossen habe er aber nur seinen ersten Titel, als er mit der DDR-U-18-Auswahl Europameister in Jugoslawien wurde. "Der erste Titel ist immer der wichtigste", sagt Sammer, der beim 3:1-Endspielsieg einen Treffer erzielte. "Der konnte alles: rechts schießen, links schießen, Kopfbälle, grätschen, tricksen. Ich wusste schon damals: Der wird ein ganz Großer", erinnerte sich später sein damaliger Mitspieler Axel Kruse.

Tatsächlich verhinderte nur eine hartnäckige Sepsis im Knie die angepeilte Weltkarriere des 74-fachen Nationalspielers. Zweieinhalb Jahre lang kämpfte Sammer verzweifelt um ein Comeback, ehe er sich im April 2000 zu einer alternativen Erfolgskarriere als Trainer entschied. Gemeinsam mit Udo Lattek übernahm Sammer die abstiegsgefährdeten Dortmunder, rettete sie und sicherte seiner Borussia zwei Jahre später - dann ohne Lattek - als jüngster Meistertrainer der Bundesligageschichte am letzten Spieltag der Saison 2001/2002 den Titel. Doch trotz dieses Erfolges merkte er schnell, dass der Trainerjob eigentlich nichts für ihn ist. Sammer fühlte sich abhängig - abhängig von seinen Spielern, abhängig von den Medien und abhängig von vermeintlich ahnungslosen Klubchefs. Nachdem Motzki, wie Sammer als Spieler genannt wurde, zweimal kurz hintereinander "im gegenseitigen Einvernehmen" seine Trainerverträge mit dem BVB und dem VfB Stuttgart auflöste, entschied er sich, die Trainerkarriere mit 37 Jahren wieder zu beenden. Wer sein ganzes Leben auf dem Platz der Chef war, der will auch abseits des Rasens der alleinige Chef sein.

"Ich erlebe eine ganz tolle Zeit, die ich sinnvoll nutzen will", sagte ein völlig veränderter Sammer dem "Kicker" wenige Monate nach dem Ende seine Trainerkarriere. Der ewig meckernde und oft alleine kämpfende Fußballfanatiker präsentierte sich nach der schöpferischen Pause entspannt und gelöst. Sammer gab zu, früher zu verbissen gewesen zu sein. "Sehe ich heute Interviews mit mir nach Spielen, fehlte da eine gewisse Lockerheit. Die muss ich erlernen und insgesamt an meinem Bild arbeiten", sagte Sammer, der einen Coach für sein Persönlichkeitsbild engagierte: "Ich muss menschliche Seiten zeigen."

Sammer lernte, auch mal abzuschalten, Golf zu spielen, Englisch und beschäftigte sich mit dem Dalai Lama. Fußball war noch immer ein wichtiger Teil des Querdenkers, aber nicht mehr der einzige. Der Ex-Spieler und Ex-Trainer nutzte seine Freizeit, hospitierte bei Real Madrid und Arsenal London, traf Trainerkoryphäen wie Arsène Wenger, Louis van Gaal und José Mourinho und fing nach und nach an, das große Ganze statt das ganz Große zu sehen. "Im Fußball kommt es immer auf die Philosophie an", sagt Sammer, dem es nicht mehr um den kurzfristigen Sieg, sondern um die langfristigen Erfolge ging.

Gegen den ausdrücklichen Willen des damaligen Bundestrainers Jürgen Klinsmann, was Sammer seinem früheren Mitspieler nie verziehen hat, erhielt der Wahl-Münchner 2006 schließlich den Job, für den er wie gemacht schien. "Es gab in 106 Jahren beim DFB keinen Sportdirektor, keine Vorlagen und Konzepte, nur einige Papiere mit inhaltlich guten Ideen", sagte Sammer dem Abendblatt, als er als neuer Sportdirektor des DFB für den langfristigen Erfolg der deutschen Nachwuchsmannschaften sorgen sollte. Und Sammer wäre nicht Sammer, wenn er nicht auch diese Herkulesaufgabe in Rekordzeit bewältigen würde. Unter seiner Führung wurden hintereinander die U-17-, U-19- und U-21-Nationalteams Europameister. Doch Sammer wäre nicht auch Sammer, wenn ihn diese Titel zufriedenstellen würden.

Über Monate stritt "der Feuerkopf", so der Titel seiner Biografie, öffentlich mit Klinsmanns Nachfolger und Vertrautem Joachim Löw darüber, wer die Entscheidungsgewalt über das U-21-Nationalteam hat. Als im vergangenen Sommer DFB-Präsident Theo Zwanziger Sammer offiziell auch noch zum Nachwuchskoordinator der U 21 bestimmte, schien der Streit beendet. Doch Löw ließ nach seiner Vertragsverlängerung nach der erfolgreichen WM in Südafrika nicht locker - und konnte den Machtkampf um die Hoheit über den Unterbau der Nationalelf vorerst für sich entscheiden. Eine Niederlage für Sammer, die ihn schmerzte.

Doch Sammers Niederlage beim DFB könnte gleichzeitig der entscheidende Sieg des HSV werden. In Hamburg soll er das erreichen, was vor ihm in fast 24 Jahren keiner mehr geschafft hat: Siege, Pokale und vor allem Titel. Für diese Ziele würde sich sogar Bernd Hoffmann zurücknehmen. Der HSV-Chef will sich zukünftig auf die Finanzen konzentrieren, Hoffnungsträger Sammer soll sich um den sportlichen Bereich kümmern. Und um Erfolge.

Im Hotel Elysée sollen sie sich jedenfalls schon auf den prominenten Gast freuen. Ein Zimmer ist auch schon frei. Dirk Sammer reiste gestern ab.