Jakub Blaszczykowski trifft für Polen und lässt seine Familientragödie hinter sich. Schwere Ausschreitungen nach dem Spiel in Warschau.

Warschau. Nachdem der kleine Jakub alles mit angesehen hatte, verkroch er sich im Bett. Fünf Tage lang kam er nicht mehr heraus. Es waren schreckliche Bilder, die der zehn Jahre alte Junge mit unter die Decke nahm: Wie sein Vater Zygmunt mit dem Messer zustach, wie er Jakubs Mutter Anna traf, wie sie starb. "Es ist, als falle ein Stein auf deinen Kopf, und nach einer Woche wachst du auf und musst dein Leben von vorn beginnen", hat Jakub "Kuba" Blaszczykowski im polnischen Fernsehen gesagt.

Blaszczykowski hat sein Leben von vorn begonnen. Seine Oma Felicja nahm ihn bei sich auf. "Ohne sie wäre ich vielleicht vom rechten Weg abgekommen", sagte der 26-Jährige der britischen "Sun". Sein Onkel Jerzy, einst Kapitän der polnischen Nationalelf und Gewinner der olympischen Silbermedaille in Barcelona 1992, nahm ihn mit zur Nationalmannschaft. Das habe seine Fantasie geprägt, sagt Blaszczykowski heute.

Die Großmutter und der Onkel nahmen die Plätze seiner Mutter und seines Vater ein, der aus Blaszczykowskis Leben verschwand. Er wurde zu 15 Jahren Haft verurteilt. Mit ihm soll Blaszczykowski nie wieder ein Wort gewechselt haben. Im vergangenen Jahr kam er aus dem Gefängnis frei, im Mai starb er. Zygmunt Blaszczykowski wurde nur 56 Jahre alt. Jakub ging zur Beerdigung. Vielleicht ein Abschluss des alten Lebens zur rechten Zeit.

Das neu begonnene Leben hat dem Fußballprofi Jakub Blaszczykowski am Dienstag einen neuen Höhepunkt beschert, als der Mittelfeldspieler in der 57. Minute von der rechten Angriffsseite kommend mit dem Ball am Fuß die Strafraumgrenze entlang lief und links oben in den Winkel traf. Das 1:1 gegen Russland war ein Traumtor.

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Danach rannte Jakub, als wollte er alles hinter sich lassen. Er breitete die Arme weit aus, er brüllte, er küsste das polnische Wappen. Es wirkte, als wüsste der Glückliche nicht, was er zuerst machen sollte, wie er seine Befreiung am besten ausdrücken sollte.

Solche Eruptionen trauen viele dem abseits des Platzes so zurückhaltenden Polen kaum zu. Blaszczykowski ist immer kontrolliert. Im April übernahm er zusammen mit seinen polnischen Klubkollegen Robert Lewandowski und Lukasz Piszczek von Borussia Dortmund die Patenschaft für zwei Löwenbabys im Dortmunder Zoo. Die drei saßen gemeinsam mit den Lolek und Bolek getauften Miniraubkatzen vor dem Löwengehege. Hinter ihnen, getrennt durch eine Plexiglasscheibe, wurde die Löwenmutter von Minute zu Minute unruhiger. Sie hämmerte mit der Pranke gegen das Glas. Immer wieder drehten sich Lewandowski und Piszczek ängstlich um. Nur "Kuba" lächelte entspannt in die Kameras.

Da passte schon besser ins Bild, was Blaszczykowski im Anschluss an seinen Jubellauf auf dem Rasen des mit 55 920 Zuschauern voll besetzten Warschauer Stadions zelebrierte: Auf Knien hockend reckte er die Arme gen Himmel. Mit den Fingern zeigte er dorthin, wo er seine Mutter wähnt: "Meine Mutter passt auf mich auf", hatte er vor der EM gesagt. Jedes Tor schieße er für sie.

Und natürlich für sein Land. Denn der streng gläubige Blaszczykowski ist in Polen nicht nur Kapitän der Nationalelf - er ist das Gesicht des gesamten Turniers im Gastgeberland. Alle Zeitungen druckten seinen Jubel auf der ersten Seite. Für das Modelabel Hugo Boss guckt er ernst, im edlen schwarzen Anzug, mit gelöster Fliege wie James-Bond-Darsteller Daniel Craig von haushohen Plakaten. Und für den Discounter Biedronka steht er mit Trainer Franciszek Smuda und einer Verkäuferin vor dem Gemüseregal.

Auf ihn scheinen die Polen alles projizieren zu können. Gut für die Werbung - und gut für ein Volk, das hofft, dass Blaszczykowski die Träume von einer erfolgreichen Heim-EM erfüllt.

Einen ersten Schritt hat er getan. Mit dem 1:1 gegen Russland hat Blaszczykowski den Polen die Zuversicht für das Erreichen des Viertelfinals zurückgegeben. Ein Sieg über Tschechien am Sonnabend - und Polen wäre durch. Blaszczykowski soll es wieder richten.

Solche Hoffnungen können einen Sportler auch erdrücken, sie können seine Leistung mindern. Doch Blaszczykowski ist gefestigt. In Dortmund schien er schon abgeschrieben, viele unterstellten, dass ihm das Spiel der jungen Truppe zu schnell gehe. Doch er durchschreitet die Täler seiner Laufbahn mit stoischer Ruhe. "Ich hatte viele Probleme in meinem Leben, aber ich habe sie alle überstanden, weil meine Mutter bei mir ist und mir hilft", sagte Blaszczykowski vor dem Turnier. "Ich fühle es." Der Mann aus Czestochowa spielte in Dortmund eine überragende Rückrunde. Er feierte seine zweite Meisterschaft und den ersten Pokalsieg.

"Kuba", der "herausragende Charakter", so Nationaltrainer Smuda, hat ein viel größeres Ziel als einen weiteren Titel. Er will seine Oma Felicja beeindrucken. "Ich versuche sie stolz zu machen, weil sie Großartiges für mich und meinen Bruder geleistet hat."

Blaszczykowskis Tor und Polens Sieg wurden nach dem Spiel von gewalttätigen Ausschreitungen überschattet. Bei den Schlägereien gab es 20 Verletzte, darunter zehn Polizisten. Selbst mehr als 6000 Ordnungshüter und der Einsatz von Wasserwerfern konnten die Konfrontation polnischer und russischer Fans nicht verhindern. 184 Hooligans wurden festgenommen, darunter 150 Polen, die mit Feuerwerkskörpern und Steinen Jagd auf Russen machten.

"Das war der schwierigste Tag der EM", sagte Polens Innenminister Jacek Cichocki und kündigte die ersten Urteile gegen Gewalttäter bereits für Freitag an. "In der Hauptstadt wurde das Sportfest zusammengeschlagen", titelte das polnische Boulevardblatt "Fakt", die russische Zeitung "Sowjetski Sport" schrieb vom "Krieg auf der Straße und Frieden auf dem Feld."