Ungewöhnliche Randnotizen und überraschende Erkenntnisse eines EURO-Reisenden ohne Stadionbesuch.

Wien/Hamburg. Ritterschlag um Mitternacht! Der Professor ordert eine weitere Runde Veltliner und noch mehr dieses verflucht fruchtigen Vogelbeerenbrandes. Wie Feuer rinnt das Zeug runter, schlummert jedoch sanft im Magen. Und macht den Blick frei. "Ich zieh den Hut vor euch", grummelt der Professor. "Auch wenn's Piefke seid." Und fügt nuschelnd eine Art Toast hinzu. Auf Hamburgisch übersetzt ungefähr: "Nicht lang schnacken, Kopf in' Nacken." Geht klar.

Gibt auch nix zu besprechen. Weil des Professors Worte wirken. Selbst Mechthild hat's die Sprache verschlagen, und das will was heißen. Stille im Ofenloch, einem bodenständigen Beisl unweit des Stephansdoms. Hat der Professor Kreide gefressen? Übermannt ihn zum EURO-Ausklang Altersmilde? Oder hat ihn der Fusel narrisch g'macht - wie einst Edi Finger?

"Leute schaut's", eröffnet der Professor einen philosophisch anmutenden Monolog. Inhalt kompakt: Die Germanen hätten sich - vom Sieg gegen die Ösis mal abgesehen - höchst anständig verhalten. Hätten Hand in Hand mit den anderen gefeiert, nicht den großmäuligen Piefke rausgekehrt, die Türken heimgeschossen, wahrlich alles andere als Überfußball zelebriert, dem Gastgeberland fair Tribut gezollt. Und sogar die Staatsspitze aufgefahren. Das sei, unterm Strich, aller Ehren wert. "Prosit!" knurrt der Professor. Die Umsitzenden stimmen ein...

"Die EM hat Punkte gebracht", bilanziert auch der Kaptein beim Schoppen zuvor im Plachutta in der Wollzeile, "nicht nur auf dem Platz." Jochen "Kaptein" Kleemann, uralter Sylter und Hamburger, jahrelang Chefredakteur des Wiener Bezirksjournals und ob seines norddeutschen Idioms mit diesem Spitznamen bedacht, habe mit Verblüffung registriert, dass viele Österreicher beim Endspiel gestern zu den Deutschen gehalten hätten - aller Rivalität zum Trotze. Anfänglicher Groll ob des weit entfernten Teamquartiers im Tessin sei flugs verflogen.

Sympathien allerorten. Für Deutschland, aber auch ganz speziell für Hamburg. Die meisten in der Schweiz und Österreich wussten erstaunlich gut Bescheid über die Hansestadt, kannten nicht nur den HSV, St. Pauli, Hagenbeck, sondern auch Ole von Beust, Hafencity, Elbphilharmonie. Bis auf Melanie, proppere Lebensfreude auf zwei Beinen und Kellnerin in Graz. "Hamburg, o wie schön!" flötete sie: "Wow, Schiffe und Dieter Bohlen..." Küss die Hand, Melanie!

Diese Beobachtungen standen in Harmonie zum Gesamteindruck: Mit den beiden Gastgeberländern war in den vergangenen drei Wochen nicht nur sportlich Staat zu machen. 21 Stationen ergaben ein Vielfaches an herzlichen, interessanten und meist spannenden Kontakten, die ein treffliches Bild der Alpenregion zeichneten. Allerorten war enorme Gastfreundschaft Trumpf. Auch wenn es oft schwer fiel, nach wenigen Stunden weiter zu müssen.

Wobei das Prinzip offener Arme für schöne Erlebnisse in der Großstadt wie auf der Almhütte zutraf. Grüezi & Grüß Gott, in der Regel mit einem markigen Moinmoin erwidert, zogen sich wie ein fröhliches Band der Sympathie durch eine EM-Tour mit unvergesslichen Impressionen.

Vom nobelst residierenden Fifa-Boss Sepp Blatter in Zürich bis zum erstaunlich unkomplizierten Bundespräsidenten in der Hofburg zu Wien, vom Alpenbauern Albert Rey in Morgins oberhalb des Genfer Sees bis zu Bruder Raimund, dem Einsiedler in der Felsnischenklause: Die Schweiz und Österreich offerierten Einblicke und Facetten, die Sinne sensibilisierten.

Zum Beispiel für eine teilweise noch unverkorkste Natur. Die achtstündige Fahrt mit dem Glacier Express durch die bergige Wunderwelt zwischen Zermatt und St. Moritz mahnt zum achtsamen Umgang mit dem irdischen Paradies. Einsame und stille Stunden auf der Alp Trovassièrre spendeten Muße - und Zeit zum Innehalten. Die anfängliche Verbitterung, einen aufregenden EURO-Abend ohne Fernseher und eine karge Übernachtung mit Etagenbad verbringen zu müssen, wich spätestens beim Sonnenuntergang hinter schneeblitzenden Gipfeln wahrhaftigem Glücksgefühl. Zumal das Konzert der Kuhglocken in gut 2000 Metern Höhe melodischer wirkte als jetzige Discomusik bei ach so fetzigen Fanfesten.

Unvergessen der Blick des Landwirts Albert bei der Frage nach der Einschätzung des Schweiz-Kicks zwei Tage zuvor. Der Mann hatte schlicht keinerlei Ahnung - und das war auch irgendwie gut so. Weil er von fünf in der Früh bis 22 Uhr ackert, um seine Familie über die Runden zu bringen. Aus der Not, vom Käse allein nicht mehr leben zu können, machte Monsieur Rey eine Tugend. Erwarb eine heruntergekommene Almhütte und peppte sie mit eigener Hände Kraft zu einer florierenden Gastwirtschaft auf.

Vor allem aber schaffte Bauer Albert den Spagat zwischen Tradition und Zukunft. Sohn Manuel erlernte die Käseherstellung nach Urahnen-Art, und Tochter Sabine wurde vom Ersparten nach Neuseeland und Argentinien geschickt. Um Sprachen zu lernen und fit zu sein für den Tourismus, dem neuen Pfeiler des Broterwerbs.

"Was brauchst du schon wirklich zum Leben?", fragte Sennerin Uschi zu später Stunde im Wirtsraum ihrer kleinen Alpenpension. Als sich die letzte Kabinenbahn ins Tal abgeseilt hatte und Ruhe herrschte. Weil oben nach Gspon keine Straßen führen. Kaum gönnte sich Uschi einen Augenblick des Sinnierens, klopfte der Hirte an die Holztür. Er berichtete von zwei Füchsen vor dem Hause und einer kalbenden Kampfkuh. Ein bisschen war dies die Antwort auf Uschis Frage. In solchen Momenten war Hamburg ganz weit weg...

Auch als es in Bruder Raimunds Einsiedelei auf dem Palfen bei Saalfelden inhaltlich zur Sache ging. Als sich der Laienbruder ganz und gar nicht als verschrobener Sonderling, sondern als hochintelligenter Philosoph erwies. Und reichlich Nachdenkenswertes mit ins Gepäck auf den Weg bergab packte.

Im Stift Göttweig in der Wachau gingen Vorurteile gleichfalls serienweise baden. Weil die Mönche dort stark ihren Weg beschreiten, Seelsorge pragmatisch umsetzen und beweisen, dass Klosterleben keinesfalls Askese bedeuten muss - und durchaus Spaß bringen kann. Auch wenn's fraglos nicht jedermanns Sache ist. Soll ja auch nicht. Respekt vor Pater Justus sowie seinen Brüdern - und Dank für einen immens lustigen Fußballabend im Refugium der Abtei.

Leben ist Kunst, beiderseits eine Frage individueller Interpretation. Virtuos spielte Salzburgs Festspielintendant Jürgen Flimm mit Parallelen zwischen Fußball und Kultur, pries das lustvolle Gefühl, den Ball oben ins Toreck katapultieren zu können. Die Suche nach Herbergers legendärem Geist von Spiez endete in inniger Umarmung mit holländischen Fußballverrückten ganz in Oranje am Thunersee. Dagegen hatte Bergretter Bruno Jelk mit der Europameisterschaft wenig am Hute. Dafür rettete der Mann am Matterhorn Hunderte aus höchster Not.

Der urige Bruno war keine Ausnahme: Fußball regiert die Welt in den Alpen längst nicht in dem Maße wie bei uns. Kein Wunder mithin, dass die EM aus der Sicht des Dauerreisenden kein Sommermärchen à la 2006 ergab. Weil die erste Hälfte verregnet und unterkühlt war, weil beide Gastgeberteams früh im Abseits standen, weil der Wintersport traditionell an erster Stelle steht.

Dafür offenbarten Österreich und die Schweiz Reize ganz anderer Kategorie. Warmherzige Gastfreundschaft auch nach dem Aus der Heimmannschaften, spontane Menschlichkeit am Wegesrand, aufgeschlossene Neugierde für Deutschlands Norden, erstaunlichen Zuspruch für Angela Merkel. Vor allem indes beeindruckte die Tugend, nicht unbedingt und allzeit siegen zu müssen. "Wer als kleines Land ohnehin nicht oft oben auf dem Treppchen steht", analysierte Basels Klubmanager Peter Knäbel bei einem Vanilletee am Rheinufer, "setzt ganz andere Maßstäbe." Erfreut sich folglich umso mehr des Spiels an sich. Fußball, so nicht nur sein Fazit, sei eben nicht das Leben.

Aber er kann Brücken bauen - wie im abgelaufenen Monat eindrucksvoll bewiesen. Immer wieder diente der Sport, um ins Gespräch zu kommen, um floskelfrei in Medias res zu gehen. Ob der Professor im Wiener Beisl Ofenloch den mitternächtlichen Ritterschlag auch ohne Schwächephasen der deutschen Profis und ohne Verbrüderungsszenen der Fans mit Sportsfreunden aus aller Herren Ländern so gnädig erteilt hätte?

"Baba!" sagt er zum Abschied, Tschüs auf Wienerisch. "Küss die Hand, Germania." Steigt ins Taxi und braust davon. "Ein Kollege", verrät Mechthild. Denn der Professor ist Taxifahrer - seit 43 Jahren, mit dem Ohr am Volksmund. Und ein lebenskluger zudem...