Als die Fans die Meisterschaft feierten, dachte Dortmunds Präsident Reinhard Rauball an den Fast-Absturz des Vereins vor sechs Jahren.

Dortmund. Die letzten Borussen begrüßten den Tag der Arbeit in luftiger Höhe. In der Diskothek View, untergebracht in der Kuppel des U-Turms in der Dortmunder Innenstadt, ging in den frühen Morgenstunden des 1. Mai die Meisterfeier zu Ende. "Ich bin nach Hause gegangen, als es hell wurde", sagte Sportdirektor Michael Zorc: "Aber ich war bei Weitem nicht der Letzte."

So war selbst der Showdown eines bewegenden Ereignisses noch voller Symbolik. Der U-Turm, ein unter Denkmalschutz stehendes Industriegebäude, ist das ehemalige Lager- und Gärhochhaus der Union-Brauerei. Die traditionsreiche Brauerei ist längst nicht mehr eigenständig und in einem Großkonzern aufgegangen. Die Zeiten, als Dortmunder Bier das am meisten nachgefragte in Europa war, sind längst Geschichte. Das Gebäude, eines der Dortmunder Wahrzeichen, wurde in den letzten Jahren aufwendig renoviert. Mittlerweile beherbergt es Kulturbetriebe und eine Diskothek. Geblieben ist das nachts beleuchtete und weithin sichtbare große U auf dem Dach.

Das neue Wahrzeichen der Stadt ist jedoch der neue Fußball-Meister. Und was die Strahlkraft angeht, übertrifft die junge Mannschaft von Trainer Jürgen Klopp alles andere bei Weitem. "Diese Meisterschaft war die größte Leistung in der 101-jährigen Geschichte von Borussia Dortmund", sagte Zorc, sonst eher ein zurückhaltender Westfale, mit einer Stimme, die an die von Joe Cocker erinnerte. Die durchfeierte Nacht hatte am Sonntagmorgen, als Zorc live in den Sport1-"Doppelpass" geschaltet wurde, ihren Tribut gefordert. Zorc dürfte der einzige Borusse gewesen sein, der um diese Zeit schon wieder auf den Beinen war.

Von Jürgen Klopp war dies jedenfalls nicht zu vermuten. "Seid ihr eigentlich bekloppt?", rief er den Fotografen zu, als die ihn am Vorabend gefragt hatten, ob denn für Sonntag ein Training angesetzt sei. Natürlich nicht, bis Mittwoch hat der frischgebackene Meistercoach seinen Spielern freigegeben. Ob die Profis bis dahin wieder Normalform haben werden, darf bezweifelt werden. "Was heißt hier eine Nacht?", sagte Kevin Großkreutz, das "Feierbiest" des BVB: "Es werden mehrere Nächte gefeiert."

Die Freude ist umso größer, weil der siebte Meistertitel in der wechselhaften Geschichte des Vereins so unerwartet kam. "Wir wären froh gewesen, wenn wir uns am Ende der Saison wieder für einen internationalen Wettbewerb qualifiziert hätten", gab Klopp zu. Es hätte doch schließlich niemand damit gerechnet, dass sich dieses "Kindergartenteam derart durch die Bundeligaspielzeit nagelt, als gäbe es kein Morgen." Er selbst, so der 43-jährige Coach, werde noch ein wenig brauchen, um den Erfolg zu realisieren. "Mich hat es nicht so richtig umgehauen", sagte er, als er vier Stunden nach dem Schlusspfiff beim Edel-Italiener Piazza Navone mit seinen Spielern bei der internen Meisterfeier zusammensaß. Und außerdem, so Klopp, verspüre er deutlich mehr "Erleichterung als Euphorie". Ein ehrliches Eingeständnis, dass der Druck auf die mit einem Durchschnittsalter von 22,75 Jahren in der Stammelf jüngste Mannschaft, die jemals einen Meistertitel gewinnen konnte, zwischenzeitlich gewaltig war.

Speziell an diesem Sonnabend, nur eine Woche nach der 0:1-Niederlage in Mönchengladbach, drohte die Angst vor der Verantwortung immer größer zu werden. Der Beginn des Spiels gegen den defensivstarken 1. FC Nürnberg war holprig. Im Stadion war es zwischenzeitlich ungewöhnlich ruhig.

Die Explosion der Emotionen erfolgte erst um 16.02 Uhr: Lucas Barrios traf zur 1:0-Führung. Von diesem Moment an fingen die Fans auf der Südtribüne an zu singen: "Deutscher Meister wird nur der BVB!" Und sie wurden noch lauter, als Robert Lewandowski mit einem gekonnten Heber kurz vor der Pause auf 2:0 erhöhen konnte.

Es folgte die kurze, aber historische Durchsage von Norbert Dickel. Es war 16.55 Uhr: Einzelne Zuschauer, die Radio gehört hatten, jubelten bereits. Andere blickten fragend um sich: Ist in Köln, wo Verfolger Bayer Leverkusen antreten musste, etwas passiert? Dickel, selbst ehemalige Borussen-Legende, griff zum Mikrofon und brüllte: "1:0 für Köln!" Auf den Rängen brach ein Jubel-Orkan los, viele weinten Freudentränen. Um 17.05 Uhr, als mit dem zweiten Treffer für Köln die Leverkusener Niederlage besiegelt wurde, war das mit 80 720 Zuschauern ausverkaufte Dortmunder Stadion längst eine einzige Partymeile.

Zwischen 17.16 Uhr und 17.17 Uhr, in der letzten Minute des Spiels, spielte sich dagegen im Kopf von Reinhard Rauball ein Drama ab. "Es lief ein Film ab: Ich habe Bilder aus den letzten Jahren gesehen. Auch Bilder von 2005", sagte der 64-jährige Vereinspräsident: "So muss das wohl bei einem Hubschrauberabsturz sein."

Damals hat er im Düsseldorfer Flughafen im sogenannten Event-Terminal gesessen und gezittert. Es war die schwerste Zeit in der Geschichte des Traditionsvereins. Denn auf einer Gläubigerversammlung musste den Zeichnern des Stadion-Fonds ein Verzicht abgerungen werden. Anderenfalls hätten Rauball und Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke am Tag darauf zum Insolvenzrichter gehen müssen. Die Borussia war am Ende. Dass sie nur sechs Jahre später wieder obenauf ist, schien für den Realisten Rauball unwirklich, sagte er Sonnabend nach dem Schlusspfiff: "Auch wenn mein Papagei schon vormittags optimistisch war."

Als der siebte Meistertitel in der Geschichte des Vereins dann perfekt war, entlud sich der gewaltige Druck in überschwappender Freude: Bierduschen, Gesänge und Tränen.

Mittendrin ein Dortmunder Junge, der wie kein Zweiter für die Identifikation einer ganzen Region mit dieser Mannschaft steht: Kevin Großkreutz, groß geworden im Arbeiterstadtteil Eving, der schon mit sieben Jahren selbst auf der Südtribüne gestanden hatte. Die Mannschaftskollegen rasierten ihm die Haare ab, die er von Oktober an für diesen Moment hatte wachsen lassen. Er schnappte sich von Norbert Dickel das Mikrofon und sang immer wieder das Vereinslied: "Wir halten fest und treu zusammen."

Danach musste improvisiert werden. Da keine Meisterfeier geplant war, rief Watzke ("Es ist schön, mal wieder eine Meisterschaft nach Nordrhein-Westfalen zu holen. Macht ja sonst keiner.") bei seinem Stammitaliener an: "Hast du genug Fleisch und Wein da? Wir kommen vorbei."

Es wurde eine lange Nacht für die ganze Stadt: Überall gab es spontane Meisterfeiern. Der Borsigplatz in der Nordstadt, wo Borussia einst gegründet worden war, musste von der Polizei wegen Überfüllung sogar abgesperrt werden. "Das ist ein Märchen", sagte Jürgen Klopp: "Das kann uns keiner mehr nehmen."