Hamburg. Fünf Schwimmer aus der Ukraine bereiten sich in Dulsberg auf Olympia 2024 vor. Ihr Trainer ist Russe – aber das stört sie nicht.

Sätze sind es, die einem Werbevideo des Hamburger Verkehrsverbunds (HVV) entnommen sein könnten. „Es ist unglaublich, wie leise und sauber die öffentlichen Verkehrsmittel in Hamburg sind. Busse und Züge sind nie überfüllt, und sie fahren immer pünktlich“, sagt Jegor Romaniuk.

Hamburger zu finden, die so über den HVV reden, ohne dafür bezahlt zu werden, dürfte schwierig werden. Aber der 20-Jährige sagt diese Sätze ohne Entlohnung, sondern weil er so empfindet, und weil er Hamburg im Vergleich zu seiner Heimat als Paradies betrachtet.

Jegor Romaniuk stammt aus Khmelnytskyi, einer 265.000-Einwohner-Stadt in der Westukraine. Im Januar dieses Jahres folgte der Schwimmer seiner Trainingsgruppe, mit der er seit Jahren in der Region Kiew geübt hatte, nach Hamburg. Er war derjenige gewesen, der am längsten im Kriegsgebiet ausgeharrt hatte.

Vier der fünf kamen im Juni 2022 nach Hamburg

Seine Teamkollegen Arsenij Kowalow (18), Alexander Striletski (18), Alexander Oleksischin (21) und Wladimir Lisovec (18) waren bereits im Juni 2022 mit ihrem Trainer Alexander Fomin am Bundesstützpunkt in Dulsberg untergekommen. Nun ist die Gruppe seit zweieinhalb Monaten wiedervereint, und weil sie sich mittlerweile in Deutschland zu Hause fühlen und ihrer Dankbarkeit darüber Ausdruck verleihen wollen, haben sie einem Gespräch mit dem Abendblatt zugestimmt.

Mit am Tisch sitzt Ronny Berndt. Der 63-Jährige ist stellvertretender Leiter des Olympiastützpunktes (OSP) und war im April vergangenen Jahres Ansprechpartner, als der Deutsche Schwimmverband nach Standorten suchte, die geflüchtete ukrainische Athleten aufnehmen könnten. „Wir wollten unbedingt helfen, mussten aber zunächst die Rahmenbedingungen abklären“, erinnert er sich.

Als er jedoch nur drei Tage nach seinem Hilfsgesuch aus einem Unterstützungsfonds des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB) 3000 Euro Soforthilfe zur Verfügung gestellt bekam, wusste er, dass die Sache laufen würde. „Mir war in dem Moment klar, dass alle Seiten hinter dieser Hilfsaktion stehen“, sagt er.

Anfangs wohnten die Athleten im Wohnheim

Zunächst wurden die fünf Athleten und ihr Coach im Wohnheim des OSP untergebracht und bekamen im Dulsbergbad separate Trainingszeiten zugewiesen, um sich auf die internationalen Saisonhöhepunkte Jugend-WM und Jugend-EM vorbereiten zu können. „Ich war unglaublich beeindruckt von den Anlagen hier. Das Schwimmbad und das Gym sind drei Klassen besser als das, was wir aus der Heimat kennen“, sagt Wladimir Lisovec, den alle nur Wowa nennen.

Als den Auswahlschwimmern, die in der Ukraine zum Nationalteam zählen, im Lauf der Monate klar wurde, dass ihr Aufenthalt in Deutschland länger dauern würde als nur ein paar Wochen, wurden neue Pläne geschmiedet. Alle fünf sind mittlerweile als Flüchtlinge anerkannt und erhalten finanzielle Unterstützung. Seit 15. März bewohnen sie zwei Wohnungen in fußläufiger Entfernung vom Stützpunkt, die Miete dafür wird vom Jobcenter übernommen.

Jegor trainierte monatelang im dunklen Schwimmbad

„Für all das sind wir Deutschland und dem OSP-Team zutiefst dankbar. Ich wüsste ehrlich gesagt nicht, wo wir jetzt wären, wenn wir auf uns allein gestellt gewesen wären“, sagt Jegor. Er hat über Monate erlebt, wie es ist, in einem stockdunklen Schwimmbad trainieren zu müssen, weil der Strom entweder ausgefallen ist oder abgeschaltet werden musste, um den russischen Raketen kein Ziel zu bieten.

Von den anderen vier war nach Kriegsausbruch lediglich Langstreckenspezialist Alexander Striletski, der aus Chernivtsi in der Westukraine stammt, Ende vergangenen Jahres für einige Wochen in der Heimat. „Ehrlich gesagt war es eine schreckliche Erfahrung, weil es so traurig ist zu sehen, wie sich das Leben dort verändert hat“, sagt er.

Alle fünf stammen aus unterschiedlichen Städten – Kowalow aus dem wochenlang stark belagerten Chernihiv nördlich der Hauptstadt Kiew, Oleksischin aus Ivano-Frankivsk im Westen, Lisovec aus Zhytomyr im Nordwesten des Landes. Sie alle haben ihre Eltern und viele weitere Verwandte zurückgelassen. „Wir haben täglich Kontakt mit ihnen und sorgen uns deshalb jeden Tag um sie“, sagt Jegor.

Das Training gibt ihnen Halt und Abwechslung

„Ehrlich gesagt ist die Sorge hier noch heftiger, als wenn man vor Ort ist und selbst erlebt, was dort passiert“, sagt Alexander Striletski. Alle fünf absolvieren Fernstudien und nehmen Deutschunterricht. Aber die täglich zweimal zwei Stunden Training sind das, was ihnen Halt gibt und Abwechslung verschafft. „Deshalb sind wir so dankbar und glücklich, dass wir das Privileg haben, uns in Sicherheit und in einer so großartigen Stadt wie Hamburg um unseren Beruf kümmern zu dürfen“, sagt Wladimir.

Ukrainischen Profisportlern ist freigestellt, ob sie in der Armee dienen oder lieber trainieren und ihr Land bei sportlichen Wettkämpfen vertreten wollen. Wer in der Heimat bleibt, erhält ein Gehalt, wer ins Ausland geht, ist auf sich allein gestellt. Lediglich die Teilnahme an Wettkämpfen finanziert der ukrainische Verband.

Für das Quintett war die Entscheidung dennoch klar, auch wenn die Wahl der neuen Heimat nicht allen geheuer war. „Ich mochte Deutschland nicht, bevor ich herkam. Die Sprache klang immer so hart“, sagt Jegor. Mittlerweile jedoch mag er die deutsche Sprache, und auch wenn das Gespräch noch auf Englisch geführt wird, machen sie schnell Fortschritte.

Den russischen Trainer nennen die Ukrainer ihren Freund

In Kürze wird ihr Heimtrainer in die Ukraine zurückgehen, weil er dort dringend gebraucht wird. Seit Jahresbeginn sind seine Athleten deshalb der Trainingsgruppe von Nikolai Jewsejew zugeteilt. Der 56-Jährige lebt seit 1994 in Deutschland, ist aber gebürtiger Russe, was angesichts des Kriegs eine durchaus pikante Note haben könnte.

Nicht jedoch für die fünf Ukrainer: „Er ist ein total lustiger Mensch, der uns viel beibringt. Nikolai ist unser Freund“, sagt Jegor, und die anderen nicken vehement. Der Coach war nicht zu einer Stellungnahme zu bewegen; aber nicht wegen des politischen Hintergrunds, sondern weil er grundsätzlich Medienanfragen ablehnt.

Dass die fünf Neuen seine Trainingsgruppe aufwerten, daran gibt es keinen Zweifel. Sechs internationale Medaillen gewannen sie 2022, „sie sind alle sehr hoffnungsvolle Sportler, die ihren Weg machen werden“, sagt Ronny Berndt.

In diesem Jahr steht die WM in Japan im Fokus

In diesem Jahr steht die WM in Fukuoka (Japan/14. bis 30. Juli) im Mittelpunkt, das Fernziel allerdings sind bereits jetzt die Olympischen Spiele 2024 in Paris. Dass sie dort nach der Ankündigung des Internationalen Olympischen Komitees vom Dienstag auch auf Kontrahenten aus Russland und Belarus treffen könnten, sehen sie erwartungsgemäß kritisch.

„Viele Russen und Belarussen sind genauso gute Menschen wie wir“, sagt Jegor, „aber sie sind Teil der Propaganda und sollten deshalb nicht teilnehmen dürfen.“ Alexander Striletski fügt an, dass „wegen des Angriffs viele ukrainische Athletinnen und Athleten nicht trainieren können oder sogar sterben. Da wäre es ungerecht, wenn Russen und Belarussen teilnehmen dürften, auch wenn es mir für diejenigen, die gegen den Krieg sind, leidtut.“ Ein Boykott der Spiele komme aber nicht infrage.

Bis Paris werden sie auf jeden Fall in Hamburg trainieren. Was danach kommt, ist unklar. Alle fünf jedoch sind sich einig, dass ihre Rückkehr selbst bei einem baldigen Ende des Kriegs nicht selbstverständlich ist. „Wir können uns vorstellen, langfristig in Deutschland zu leben. Es ist das beste Land in Europa“, sagt Alexander Striletski. Nur das Wetter sei gewöhnungsbedürftig. Aber wer den HVV lieben gelernt hat, den dürfte das bisschen Regen bald auch nicht mehr stören.