Hamburg. Schwimmerin Kathrin Demler ist die neue Hoffnungsträgerin am Hamburger Bundesstützpunkt.

Auf die Frage nach ihren Schwächen scheint sie fast gewartet zu haben. Die meisten Menschen werden wortkarg oder zumindest nachdenklich, wenn sie persönliche Defizite erläutern sollen, aus Kathrin Demler dagegen sprudelt es fast heraus. „Ich plage mich mit Selbstzweifeln, bin oft überhart zu mir selbst. Außerdem liegt mir frühes Aufstehen überhaupt nicht“, sagt sie. Warum sie sich dann ausgerechnet das Schwimmen als Leistungssport ausgesucht hat, wo regelmäßig im Frühtraining die Kilometer gefressen werden und ein ausgeprägtes Selbstbewusstsein vonnöten ist, um die Plackerei schadlos zu überstehen, das ist nur eine der Fragen, die sich unweigerlich anschließen.

Kathrin Demler: Warum ihr Glas immer halb voll ist

Aber wer das Glück hat, ein längeres Gespräch mit Kathrin Demler zu führen, der erfährt, dass sie auf alle Fragen plausible Antworten findet. Ihre größten Stärken seien ihr Wille und die Eigenschaft, niemals aufzugeben. Ihre Eltern, die im Teenageralter als Aussiedler aus der Sowjetunion nach Deutschland gekommen waren, hätten ihrem Bruder und ihr jeden Wunsch zu erfüllen versucht. „Daraus habe ich gelernt, dass es wichtig ist, jede Chance, die sich bietet, zu ergreifen. Ich wollte niemals in die Situation kommen, bereuen zu müssen, etwas gar nicht erst versucht zu haben. Deshalb ist Aufgeben für mich niemals eine Option.“

Man muss diesen Hintergrund kennen, um besser zu verstehen, in welcher Lebenssituation sich die 26-Jährige aktuell befindet. Kathrin Demler ist ein Kind des Ruhrgebiets, geboren in Schwerte, aufgewachsen in Bottrop und Essen, wo sie in der siebten Klasse aufs Sportinternat gegangen war. Seit vergangenem Herbst nun ist die Mittelstreckenspezialistin, die die 200 Meter Schmetterling und Lagen als ihre Paradedisziplinen angibt, die neue Hoffnungsträgerin am Bundesstützpunkt in Hamburg. Es ist ein Neuanfang, der so etwas wie die letzte Chance darstellt, etwas ganz Großes zu erreichen.

Zäsuren hat es mehrere gegeben in ihrer Karriere. Als Sechsjährige hatte sie, auf Geheiß ihrer Mutter, die wollte, dass die Tochter ordentlich schwimmen lernte, Wasser als ihr Element entdeckt. „Ich habe mich darin sofort geborgen und frei gefühlt“, sagt sie. 2015 war sie aus dem Nationalkader gestrichen worden. „Mit so einem Schlag ins Gesicht wollte ich aber nicht aufhören“, sagt sie. Also entschied sie sich zum Wechsel in die USA. An der Ohio State University in Columbus fand sie nicht nur wieder Spaß am Training. Vor allem ihrer persönlichen Entwicklung sei der Schritt ins Ausland zuträglich gewesen. „Ich habe gelernt, dass das Menschwerden im Leistungssport oft keinen Platz bekommt, aber nicht vernachlässigt werden darf.“

„Danach bin ich in ein Loch gefallen"

2020 kehrte sie, erzwungen von den Corona-Restriktionen und angetrieben davon, die Norm für die Olympischen Sommerspiele in Tokio knacken zu wollen, mit einem doppelten Bachelor in Psychologie und Kommunikation nach Deutschland zurück. Die Norm allerdings verpasste sie, um zwei Zehntelsekunden. „Danach bin ich in ein Loch gefallen, das rückblickend tiefer war, als ich es mir hätte vorstellen können“, sagt sie. Dennoch gewann sie 2021 sieben deutsche Meistertitel, qualifizierte sich für die EM in Budapest (Ungarn), war so stark wie nie zuvor – bevor eine schwere Schulterverletzung sie aus der Bahn warf. Die Bizepssehne war stark ausgedünnt, hing aus dem Gelenk und verursachte extreme Schmerzen. Zwar kam sie um eine Operation herum, doch die Folgen spürt sie bis heute.

In die Rehaphase fiel dann die Entscheidung, den Neustart in neuer Umgebung zu wagen. Die Trainingsgruppe in Essen hatte sich aufgelöst, und weil Kathrin Demler über Michael Ehnert, den Teamarzt im Deutschen Schwimmverband (DSV) und Leiter des Instituts für Sportmedizin am Asklepios-Klinikum St. Georg, und Kolleginnen aus dem Nationalteam Kontakte nach Hamburg geknüpft hatte, wählte sie den Weg in den Norden. Bereut hat die Athletensprecherin des DSV, die mit ihrem Kater eine Wohnung in Barmbek-Nord teilt, diesen Schritt noch keine Sekunde. „Am Olympiastützpunkt hapert es an nichts. Leistungsdiagnostik, Physiotherapie, Krafttraining – alles ist super. Wir bekommen alles geboten, um das Optimum herauszuholen“, sagt sie.

Wo es liegt, dieses Optimum, darauf ist sie selbst extrem gespannt. Als Sportsoldatin kann sie sich voll auf das Schwimmen fokussieren. Ende des Monats steht in Luxemburg der erste internationale Wettkampf als Hamburgerin an. Die Weltmeisterschaften vom 14. bis 30. Juli in Fukuoka (Japan) und die Olympischen Spiele 2024 in Paris, das sind die wichtigsten Ziele, die sie noch hat. Tobias Müller, Bundesstützpunkttrainer in Hamburg und Leiter ihrer Trainingsgruppe, traut ihr beides zu – mit der Einschränkung, dass die athletischen Defizite infolge der langen Verletzungspause noch aufgearbeitet werden müssen. „Aber Kathi bringt den Ehrgeiz dafür mit, sie ist eine Kämpferin, die hart arbeitet und vor allem immer positiv an ihre Aufgaben herangeht“, sagt er.

Dieses Glas-halb-voll-Denken habe sie schon immer gehabt

Dieses Glas-halb-voll-Denken habe sie schon immer gehabt und während des USA-Aufenthalts perfektioniert. „Ich weiß, dass ich noch nicht auf dem Level bin, auf dem ich 2021 war. Aber ich gebe alles, um da schnell wieder hinzukommen und 2024 auf dem Leistungszenit zu sein, um mit Bestleistung in Paris meine Karriere zu beenden“, sagt sie.

Und was, wenn das nicht funktioniert? Dann, hat Kathrin Demler gelernt, geht die Welt auch nicht unter. Sie hat sich Strategien angeeignet, um mentaler Anspannung zu begegnen. Sie liebt Spaziergänge in der Natur, zieht sich gern mit einem Buch (Fantasy, Lyrik) zurück, will sich Klavierspielen und Häkeln aneignen. Beruflich plant sie, ein Masterstudium der Rechtspsychologie aufzunehmen. „Ich habe verstanden, wie wichtig es ist, das Leben zu genießen und sich Optionen zu schaffen. Ich habe im Sport schon so viel erreicht, dass ich damit glücklich bin“, sagt sie. Glücklich, aber nicht satt. Und deshalb ist Aufhören noch keine Option.