Al-Chaur. Die Spieler der vermeintlich goldenen Jahrgänge 1995 und 1996 erleben die nächste Turnier-Enttäuschung. Auch 2024 kommt es auf sie an.

Joshua Kimmich machte einen mitleiderregenden Eindruck. Mit gesenktem Kopf schlurfte er in Richtung Ausgang des Al-Bayt-Stadions. Dann hielt der Mittelfeldspieler an und sprach monoton einige Worte, die einen unverstellten Blick auf sein aufgewühltes Seelenleben boten. Der 27-Jährige versuchte erst gar nicht zu verbergen, wie sehr es ihn schmerzte, dass er zum zweiten Mal nach 2018 ein Vorrunden-Debakel mit der deutschen Nationalmannschaft bei einer WM erlebt hatte. Dass der 4:2 (1:0)-Sieg gegen Costa Rica zum Muster ohne Wert geriet, weil Japan im Parallelspiel Spanien 2:1 (0:1) besiegt hatte.

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„Für mich ist es echt der schwierigste Tag meiner Karriere“, sagte Kimmich. Noch komplizierter als 2018 – und das aus gutem Grund. Vor vier Jahren bekleidete Kimmich eine Nebenrolle, er stand zwar in allen Turnierspielen auf dem Platz, nahm als junger Rechtsverteidiger aber kaum Einfluss aufs Geschehen. 2022 war das anders. Die WM in Katar hätte Kimmichs Turnier werden sollen, und nicht nur seins. Kimmich ist das Gesicht der Jahrgänge 1995 und 1996, die als goldene Generation gehandelt wurden, als Zukunft des deutschen Fußballs – die dieses Versprechen in der Gegenwart aber noch nicht erfüllt haben.

Der Stamm bleibt bis zur Heim-EM

Spieler wie Joshua Kimmich, Leroy Sané, Julian Brandt, Timo Werner, Thilo Kehrer und Lukas Klostermann (alle 26), wie Leon Goretzka, Serge Gnabry und Niklas Süle (alle 27) durchliefen gemeinsam die deutschen Nachwuchsmannschaften. Einige von ihnen wurden U21-Europameister, einige holten 2016 Olympia-Silber. Seitdem die Generation Kimmich einen Großteil jener Mannschaft gestellt hatte, die 2017 den Confed-Cup holte, war der deutschen Fußball-Öffentlichkeit klar: Wenn nun all diese Talente zu dem Stamm dazustoßen, der 2014 den WM-Titel holte, dann wird diese Mannschaft vielleicht nicht auf Jahre unschlagbar sein – aber für ein, zwei Weltmeisterschaften doch bestimmt.

Stattdessen: Vorrunden-Aus 2018, Achtelfinal-Aus bei der EM 2021, nun wieder die vorzeitige Abreise. Die vermeintlich goldene ist bislang eine blecherne Generation – im Nationalteam. Die Bayern-Spieler, die ein Gros dieser Jahrgänge ausmachen, holten 2020 den Champions-League-Titel. Ein Jahr später zogen Timo Werner, der etwas jüngere Kai Havertz und der etwas ältere Antonio Rüdiger mit Chelsea nach.

Kimmichs bewegenden Worte: "Ich habe Angst, in ein Loch zu fallen"

Nur im DFB-Trikot will es nicht klappen. „Vorher war Deutschland immer im Halbfinale“, haderte Kimmich. „Dann kommt man dazu und scheidet zweimal in der Vorrunde aus, letztes Jahr Achtelfinale.“ Er ist ehrgeizig, drängt seit Jahren in die Führungsrolle – ihn trifft der Misserfolg daher besonders stark. „Ich werde mit dem Misserfolg persönlich in Verbindung gebracht“, sagt Kimmich. „Das ist nichts, wofür man stehen möchte. Ich habe Angst, in ein Loch zu fallen.“ Diese Botschaft hinterließ der betroffene Kimmich zum Abschluss dieser enttäuschenden WM.

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In diesem Loch steckt der deutsche Fußball nach nunmehr drei erfolglosen Turnieren allerdings längst – und jene, die ihn mit hineinbugsiert haben, werden ihn da wieder heraushieven müssen Die Fußballer der Jahrgänge 1995 und 1996 werden auch 2024 bei der Heim-EM einen großen Teil des Teams stellen und wichtige Positionen besetzen, das ist schon heute klar. Es sind ja nur anderthalb Jahre bis zum Turnier, da wird keine neue Mannschaft, keine neue Generation heranwachsen. Die Spieler von heute werden auch die von morgen sein.

Und die, die heute noch fehlen, werden aller Voraussicht nach auch 2024 nicht zur Verfügung stehen. Außenverteidiger von außerordentlichem Niveau wachsen nicht auf Bäumen und werden offenbar auch nicht in den hochgerüsteten Nachwuchs-Akademien des Landes herangezüchtet. Weltklasse-Mittelstürmer ebenso wenig. So kann sich auch der spätberufene Niclas Füllkrug, schon 29 Jahre alt, Hoffnungen machen, im übernächsten Sommer wieder dabei zu sein.

Es gibt auch Hoffnungsschimmer

Was aber macht Hoffnung? Die sportliche Leitung setzt auf den Faktor Entwicklung – und auf einige wenige Spieler, die nachdrängen. Wie Jamal Musiala, der trotz seiner erst 19 Jahre schon aktuell einer der besten war und noch besser werden soll. „Jamal ist ein exzellenter Spieler, und noch so jung und talentiert“, sagt Nationalmannschaftsmanager Oliver Bierhoff. „Er hatte persönlich einen guten Start in die WM, er ist sicher unsere Zukunft.“ Dann nennt er noch Youssoufa Moukoko (18) und Florian Wirtz (19), der wegen der Folgen eines Kreuzbandrisses in Katar fehlte. Und Kai Havertz, der mit 23 Jahren auch noch reichlich jung ist. „Wir blicken optimistisch in die Zukunft“, das war Oliver Bierhoffs letzter Satz, bevor er durch die Tür ging. Raus aus dem Al Bayt, raus aus dem Turnier, raus aus Doha.

Ein optimistischer Ausblick, das immerhin – aber den muss Bierhoff ja auch qua Amt verordnen. Die Spieler taten sich da noch um einiges schwerer. „Ich muss erst einmal alles verarbeiten, einordnen und habe dann hoffentlich in vier Wochen die Energie, um wieder anzugreifen“, sagte Joshua Kimmich. Er wird sie brauchen, spätestens im Sommer 2024. Dann ist seine Generation wieder gefordert, dann muss sie sich titelreif präsentieren.

Sonst wird die einstige goldene später als verlorene Generation in den Geschichtsbüchern stehen.