Doha. Thomas Müller deutet nach dem WM-Aus seinen Rücktritt an. Er wurde Weltmeister und WM-Torschützenkönig – blieb zuletzt aber glücklos

Die Szene war wie gemalt für einen Stürmer, vor allem für einen, der auf sein erstes Turniertor wartet: Butterweich und präzise kam Joshua Kimmichs Flanke geflogen, weit und breit war kein Gegenspieler zu sehen, der hätte stören können. Thomas Müller sprang ab, setzte den Flugkopfball – und sah dann verdutzt hinterher, wie der Ball am Tor vorbeiflog. Er war nun, im dritten Weltmeisterschaftsspiel, zwar endlich nicht mehr der Null-Torschuss-Stürmer, aber er sollte auch nach dem wilden 4:2 (1:0)-Sieg gegen den Fußballzwerg Costa Rica weiter der Null-Tore-Stürmer bleiben.

Früher wäre das alles anders gekommen: Bei der WM 2014 hätte sich der Stürmer Müller den Ball wohl selbst an den Oberschenkel geköpft, von dort wäre er an die Hüfte gesprungen, an den Innenpfosten und dann ins Tor. Und dann hätten wieder alle gestaunt über diesen Stürmer mit den listigen Laufwegen, der seine Storchenbeine immer dahin lenkte, wo es ein Tor zu schießen gab, und der Tore schoss, wie nur Müller sie schießen kann.

Thomas Müller scheint das Gespür abhanden gekommen zu sein

Und nun, gegen Costa Rica, tankte sich David Raum auf der linken Seite durch und brachte den Ball scharf hinein, an den zweiten Pfosten, wo ein echter Raumdeuter lauern würde. Müller aber war nicht durchgesprintet und so fehlten ihm anderthalb Schritte zum Ball und zum sicheren Tor. Dem Angreifer ist das Glück abhandengekommen, vielleicht auch das Gespür, so genau weiß man das bei ihm nicht. Sicher ist: Müller schießt keine Tore mehr, wie sie nur Müller schießt. Er schießt ja nicht einmal mehr Tore, wie sie ein handelsüblicher Mittelstürmer schießt. Und das nicht erst in Katar: Seit dem WM-Halbfinale 2014 ist ihm kein Treffer mehr bei einem großen Turnier gelungen, bei zwei Welt- und zwei Europameisterschaften blieb er torlos.

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Und so stand der 33-Jährige anschließend reichlich bedröppelt im Al-Bayt-Stadion von Al-Chaur, irgendwo in der katarischen Wüste, und versuchte zu erklären, was so schwer zu erklären war: dass die deutsche Mannschaft schon wieder nach der Vorrunde ausgeschieden war und dass er, Müller, wieder ein Gesicht dieses Scheiterns war. Dass Hansi Flick an Müller festhielt, obwohl der zuvor wochenlang wegen Hüftproblemen nicht gespielt und keinen Rhythmus hatte, dass dafür der formstarke Stürmer Niclas Füllkrug auf der Bank saß, ist einer von vielen Mosaiksteinchen, die das frühe Scheitern erklären. „Von meinem Gefühl her gehen wir heute mit deutlich erhobenerem Haupt nach Hause als 2018“, meinte Müller jedoch. „Was die realistische Chance aufs Weiterkommen angeht, haben wir unsere Hausaufgaben erfüllt, haben mit zwei Toren Unterschied gewonnen.“

Müllers Monolog klingt stark nach Abschied

Doch die fußballfachlichen Fragen wurden an diesem Abend überlagert von grundsätzlicherem: Müller hatte zuvor schon einen Monolog gehalten, vor der ARD-Kamera, und der hatte arg nach Abschied aus der Nationalmannschaft geklungen: Falls dies sein letztes Spiel gewesen sein sollte, wolle er bei den Fans bedanken: „Ich habe es mit Liebe getan, alles Weitere muss ich erst mal sehen.“

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Er habe seinen Emotionen freien Lauf gelassen, erklärte der 33-Jährige später. „Was die Zukunft betrifft, werde ich mir die nötige Zeit geben, ein paar Tage nachdenken, mich mit meiner Frau besprechen – und mit Hansi bereden, was der Plan ist.“ Auch das klang sehr nach Rücktritt, entsprechend reagierten die Kollegen. „Das wäre ein großer Verlust“, sagte Sturmkollege Niklas Füllkrug. Und Jamal Musiala textete eine regelrechte Eloge: „Es ist traurig für uns alle und ganz Deutschland, das zu hören“, sagte der 19-Jährige. „Er ist nicht nur ein Teamkollege, sondern auch ein Freund und Mentor, von dem ich viel lernen konnte. Ich hätte ihm einen besseren Abschied gewünscht, denn er ist eine Legende die viel für das Land geleistet hat.“

Manuel Neuer und Ilkay Gündogan denken offenbar nicht an einen Rücktritt

Müller nämlich war nicht nur das Gesicht des Niedergangs ab 2018 gewesen, sondern zuvor auch der Protagonist des Aufschwungs. Er zählte zu den jungen Wilden, die 2010 die Welt im Sturm eroberten, er trug zum WM-Sieg 2014 fünf Tore und drei Vorlagen bei, er war Anführer und Entertainer. Insgesamt 121 Länderspiele mit 44 Toren sind Ausweis einer außergewöhnlichen Karriere. Es wäre der Abgang eines Großen, doch der große Abgang blieb ihm verwehrt. Ein letztes Autogramm noch, dann verschwand er durch eine unscheinbare blaue Tür.

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Werden ihm weitere Spieler folgen? Ilkay Gündogan (32), der nach dem EM-Aus vor einem Jahr von Flick erst zum Weitermachen überredet werden musste, hatte nun schon vor dem Turnier erklärt, das noch nicht Schluss sein werde. Manuel Neuer, mit 36 noch einmal drei Jahre älter als Müller, denkt auch nicht an Rücktritt: „Solange ich eingeladen werde und meine Leistung bringe, kann ich das ausschließen“, sagte er. Vorerst dürfte es bei einem Abgang bleiben – aber die Aufarbeitung des WM-Debakels hat ja gerade erst begonnen.