Hamburg. In Teil acht der Abendblatt-Serie erzählen Protagonisten, wie ihre Liebe zu den Sommerspielen entflammte.

50 Tage sind es noch, dann sollen – trotz aller Diskussionen und Unsicherheiten, die in den vergangenen Wochen verstärkt vonseiten einiger Interessen­gruppen im Land des Gastgebers geschürt wurden – die Olympischen Sommerspiele in Japans Hauptstadt Tokio eröffnet werden. 50 Tage, in denen die Protagonisten der Abendblatt-Serie „Auf dem Weg nach Tokio“ die letzten Vorbereitungen treffen, um sich in optimaler Form auf den Weg machen zu können. Geimpft sind sie bereits, mit dem Präparat von Johnson & Johnson, das nur einmal gespritzt werden muss. Die Einkleidung soll irgendwann im Juni erfolgen.

Allerdings ist aus dem Quartett, das die Qualifikation schaffen wollte, ein Trio geworden. Doch weil auch Scheitern und Wiederaufstehen zum Leistungssport dazugehören, erzählen im achten Teil der Serie weiterhin alle vier Protagonisten, wie Olympia für sie zum Lebenstraum wurde – und was das für ihr Leben aktuell bedeutet.

Hockey: Amelie Wortmann nimmt an Olympia teil

Es gibt kein passenderes Wort als „Erleichterung“, um zu erklären, was Amelie Wortmann fühlte, nachdem sie den Anruf erhalten hatte, der ihren Lebenstraum erfüllte. Am Donnerstag der vergangenen Woche teilte ihr Bundestrainer Xavier Reckinger telefonisch mit, dass er sie in sein Aufgebot für die Olympischen Sommerspiele in Tokio berufen habe.

„Es war irgendwie surreal. Wir sollten uns zwischen 9 und 10 Uhr für den Anruf bereithalten. Als er dann kam, ging alles so schnell, dass ich es überhaupt nicht realisieren konnte“, sagt die 24 Jahre alte Hockey-Nationalspielerin vom Uhlenhorster HC, die im deutschen Mittelfeld das Spiel antreibt und die Nachricht im Kreise ihrer Familie erhielt und feierte.

Arbeit von fünf Jahren steht auf Prüfstand

Dass es Erleichterung war und nicht Freude, die Amelie Wortmann vorrangig verspürte, sagt einiges über den Druck aus, dem Leistungssporttreibende während der Monate vor dem vielleicht größten Moment ihrer Karrieren ausgesetzt sind. Die Arbeit von vier – im Fall der coronabedingt um ein Jahr verschobenen Tokio-Spiele sogar fünf – Jahren steht auf dem Prüfstand, wenn das Trainerteam seine finalen Entscheidungen über die Kaderzusammensetzung trifft.

Der psychologische Aspekt solcher Extremsituationen interessiert eine Psychologiestudentin wie Amelie Wortmann natürlich umso mehr, sodass es wenig überrascht, dass nach der totalen Erleichterung über die eigene Nominierung ihre Gedanken schnell auch bei denen waren, die es nicht geschafft hatten. Zumal mit Janne Müller-Wieland (34) eine UHC-Clubkollegin unter den Gestrichenen war, die für Amelie Wortmann eine langjährige Bezugsperson ist.

Europameisterschaft für die deutschen Hockeydamen

„Es hat mir extrem leidgetan für die, die gestrichen wurden. Die hätten es alle genauso verdient gehabt wie wir, die jetzt nominiert sind“, sagt sie. Dennoch, und das ist das Wesen des Immer-weiter im Leistungssport, gelte es nun, nach vorne zu schauen, auch wenn Olympia trotz der lediglich noch sieben Wochen bis zur Eröffnungsfeier noch weit entfernt erscheine.

Zunächst steht für die deutschen Hockeydamen von diesem Wochenende bis zum 13. Juni die Europameisterschaft in Amstelveen (Niederlande) auf dem Programm, anschließend noch ein letzter Lehrgang Ende des Monats in Valencia (Spanien) mit je zwei Länderspielen gegen die Gastgeberinnen und Argentinien. „Da kann noch so viel passieren, deshalb werde ich die Erfüllung meines Traums erst realisieren, wenn ich im Flieger nach Tokio sitze“, sagt sie.

Amelie Wortmann bleibt realistisch

Es ist dieser Realismus, der Amelie Wortmann davor bewahrt, emotional zu überhitzen. Im letzten Testspiel vor der EM bekam sie einen Schläger ins Gesicht, das rechte Auge ist seitdem stark geprellt – was die gebürtige Hamburgerin als Mahnung dafür nimmt, weiterhin auf sich und ihren Körper achtzugeben. Seit 2017, als sie als Nachrückerin in den A-Kader rutschte, hat sie jedes große Turnier gespielt.

Seitdem glaubt sie auch daran, dass Olympia ein greifbares Ziel sein kann. Mit 13, als sie erstmals für eine deutsche Jugendauswahl nominiert worden war, hatte sie in einem Abendblatt-Artikel gesagt, dass Olympia ihr Traum sei. „Seit ich bewusst Olympia schaue, bin ich fasziniert davon. Aber nun wirklich kurz davorzustehen, ein Teil davon sein zu dürfen, das ist wirklich unglaublich“, sagt sie.

Torben Johannesen: Rudern

Gegenüber den drei anderen Teilnehmenden an dieser Serie hat Torben Johannesen einen gewaltigen Vorteil. Er war schon einmal dort, wo die anderen unbedingt hinwollen. 2016 bei den Sommerspielen in Rio de Janeiro zählte der 26-Jährige vom Ruderclub Favorite Hammonia als Ersatzmann zum Aufgebot der deutschen Riemenruderer. Und auch wenn er nicht zum Einsatz kam und stattdessen die Silberfahrt des Deutschlandachters, in dem auch sein Bruder Eric (32) saß, als Zuschauer erlebte, so sind ihm die finalen Wochen, die nun anbrechen, bereits vertraut.

„Bei mir ging das Olympiagefühl damals mit der Einkleidung los“, sagt er. „Wenn du die Klamotten in der Hand hältst, dann weißt du: Jetzt geht es los, und ich gehöre dazu!“ Das Treiben im olympischen Dorf, das Sportlerinnen und Sportler, die es zum ersten Mal erleben, von fokussierten Wettkämpfern zu staunenden Touristen machen kann, kennt er bereits. Da es in Tokio, wo Kontaktminimierung an erster Stelle steht, sowieso in extrem abgespeckter Form stattfinden muss, kann der Lehramtsstudent sich komplett auf das fokussieren, was für ihn an erster Stelle steht: der sportliche Wettkampf.

Johannesen war schon dreimal Weltmeister

„Was ich 2016 nicht erleben durfte, war der Druck, ein olympisches Rennen zu fahren“, sagt er, „deshalb bin ich darauf am meisten gespannt.“ Seit 2017 zählt der Modellathlet zum Aufgebot des deutschen Paradebootes, war in dieser Zeit dreimal Weltmeister. „Aber ich stelle mir die Anspannung vor dem Olympiafinale so vor, als wäre es dreimal ein WM-Finale zugleich. Diese 5:20 Minuten, auf die wir jetzt fünf Jahre hingearbeitet haben, sind das, was mich antreibt“, sagt er.

Bei den Spielen in Peking 2008 hat Torben Johannesen vor dem Fernseher erstmals bewusst wahrgenommen, was die Faszination Olympia in ihm auslöst. Sein Erweckungserlebnis jedoch war der Olympiasieg seines Bruders mit dem Achter in London 2012. „Das hat meinen Blickwinkel noch einmal total verändert. Seitdem arbeite ich dafür, selbst einmal das Rennen meines Lebens fahren zu können“, sagt er.

Generalprobe für Tokio in Sabaudia

In Tokio soll es nun endlich so weit sein. Die Diskussionen um die Austragung versucht Torben Johannesen so wenig wie möglich an sich heranzulassen, „ganz ausblenden kann ich sie aber nicht, denn natürlich bekommen wir mit, worüber geredet wird“. Dazu kommt, dass der Deutschlandachter zuletzt zweimal in Serie das ungewohnte Gefühl der Niederlage verarbeiten musste. Bei der EM Anfang April in Varese (Italien) reichte es nur zu Rang vier, beim Weltcup in Luzern (Schweiz) am vorvergangenen Wochenende wurde man immerhin Zweiter.

In Sabaudia (Italien) soll an diesem Wochenende beim letzten Weltcup der Saison die Generalprobe für Tokio gelingen, anschließend geht es für zweieinhalb Wochen ins Trainingslager nach Klagenfurt (Österreich), Anfang Juli fliegt das Team dann nach Japan, um sich rechtzeitig an das schwül-heiße Klima anzupassen. „Wir haben seit der EM einen sehr guten Schritt nach vorn gemacht“, sagt Torben Johannesen, „wir sind fokussiert, heiß und bereit, dass es endlich losgeht.“

Julius Thole: Beachvolleyball

Er wünschte sehr, dass er diese Sätze auch sagen könnte. Stattdessen herrscht bei Julius Thole Ungewissheit über das eigene Leistungsvermögen. Mit seinem Partner Clemens Wickler (26) galt der 24-Jährige spätestens seit dem Gewinn der Vizeweltmeisterschaft 2019, die den Weg zur Tokio-Qualifikation ebnete, als Medaillenkandidat im Beachvolleyball. Doch nun bangt das Duo vom Eimsbütteler TV mangels Spielpraxis um die notwendige Form, um überhaupt den Anlauf für den Kampf um Bronze, Silber und Gold überstehen zu können.

Grund dafür sind körperliche Beeinträchtigungen, die die beiden Topspieler aus der Bahn warfen. Erst war es Ende März Abwehrspieler Wickler, der im Trainingslager auf Fuerteventura am Blinddarm operiert werden musste und deshalb die drei Weltserienturniere im April in Cancun (Mexiko) nicht absolvieren konnte. Thole spielte mit Ersatzpartner Yannick Harms ohne großen Erfolg. Nun wollten sich die deutschen Meister den Feinschliff für ihre Olympiapremiere bei den Viersterneturnieren in der vergangenen Woche in Sotschi (Russland) und an diesem Wochenende in Ostrava (Tschechien) holen. Doch dann knickte Julius Thole im Abschlusstraining in Sotschi um.

Untersuchungen in Hamburg ergaben Bänderriss

Die intensiven Untersuchungen in Hamburg am vergangenen Montag ergaben einen Bänderriss im Sprunggelenk des linken Fußes mit Beeinträchtigung der Kapsel. Wie lange Julius Thole ausfallen wird, ist unklar. Zunächst steht Reha auf dem Programm, Aquajogging und Kraftübungen für den Oberkörper sollen die körperliche Fitness konservieren. Sotschi und Ostrava mussten jedenfalls gestrichen werden, letzte Hoffnung auf gemeinsame Spielpraxis vor Tokio ist nun die Generalprobe Anfang Juli in Gstaad (Schweiz).

„Die vergangenen eineinhalb Jahre waren schon sehr zerrissen, uns fehlt wegen der Corona-Krise und der Ver­letzungen die Matchpraxis auf internationalem Niveau. Natürlich ist die Verletzung ein harter Rückschlag für unsere Vorbereitung, die wirklich nicht optimal läuft. Aktuell ist die Enttäuschung groß. Aber wir haben keine Zeit, den Kopf in den Sand zu stecken. Wir werden das Beste aus der Situation machen“, sagt Julius Thole.

„Vorfreude weiterhin riesig“

Der Jurastudent erinnert sich an sein olympisches Erweckungserlebnis sehr genau. Es war das olympische Beachvolleyball-Finale von 2012 in London, das Julius Brink und Jonas Reckermann sensationell gewannen. „Ich habe das bei der U-17-DM im Saarland mit meinem damaligen Partner Lasse Baron geschaut, und es hat mich derart geflasht, dass ich von da an den Traum hatte, dort auch mal stehen zu wollen“, sagt er.

Auch deshalb versucht der 2,06-Meter-Mann, die Diskussionen um die Austragung der Spiele auszublenden. „Für mich steht fest, dass ich dort unbedingt hinmöchte. Der sportliche Wert ist unverändert, deshalb ist die Vorfreude weiterhin riesig“, sagt er.

Julia Mrozinski: Schwimmen

Vorfreude? Anspannung? Alles erloschen, im Becken des Berliner Europasportparks untergegangen. Mitte April hatte Julia Mrozinski ihren Lebenstraum zwar nicht begraben, aber um mindestens drei weitere Jahre verschieben müssen. Nachdem bei der Olympiaqualifikation in der Hauptstadt die 200 Meter Freistil nicht wie erhofft verlaufen waren, hatte die 21-Jährige von der SGS Hamburg alles auf ihre Paradestrecke 100 Meter Freistil gesetzt. Dann schwamm vor ihr ihre Freundin und Trainingskollegin Hannah Küchler (19) die viertschnellste Zeit.

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„Ich habe ihr Ergebnis gesehen und wusste, dass es jetzt sehr hart wird für mich. Als ich dann meine Zeit auf der Anzeigetafel sah, tat es im ersten Moment unglaublich weh“, sagt sie. Und trotzdem habe sie schnell, erstaunlich schnell auch für sich selbst, Freude für ihre Freundin empfinden können. „Natürlich gönnt man sich selbst Erfolge am meisten. Aber ich weiß ja, wie viel wir beide investiert haben, deshalb war ich sehr glücklich für Hannah.“

Rückkehr nach Hamburg

Was macht es mit einem jungen Menschen, nach fünf Jahren harter Arbeit so knapp am Lebensziel vorbeizuschrammen? Am Abend der bitteren Niederlage, im Hotelzimmer in Berlin, habe sie ihre Emotionen noch einigermaßen kontrollieren können. „Aber nach der Rückkehr nach Hamburg verging keiner der ersten 14 Tage, ohne dass ich geweint habe“, sagt sie. Weil vom 17. bis 22. Mai die EM in Ungarns Hauptstadt Budapest geplant war, musste sie weitertrainieren, „aber wir haben einige Einheiten abbrechen müssen, weil es emotional einfach nicht mehr ging“.

Gespräche mit Cheftrainer Veith Sieber, Teilen ihrer Trainingsgruppe und ihren Eltern brachten dann die notwendige Stabilität zurück, die ihr die Kraft zur Aufarbeitung gab. Ergebnis? „Ich habe alles getan, was möglich war. Leider hat mich meine Corona-Infektion acht Wochen Training gekostet, das war nicht aufzuholen. Deshalb muss ich akzeptieren, dass es in diesem Jahr noch nicht sein sollte“, sagt sie. Grundsätzliche Zweifel jedoch, die habe sie zerstreuen können. „Ich weiß, dass ich es draufhabe. Das war mit Sicherheit nicht das Ende. Einer der ersten Sätze, die ich zu meinen Eltern gesagt habe, nachdem das Aus feststand, war: Dann fahren wir eben 2024 gemeinsam nach Paris!“

Hamburgerin träumt weiter von Olympia

Mittlerweile, nachdem sie in Budapest über 200 Meter Freistil das EM-Finale erreichte und Achte wurde, ist sie von dieser Aussage auch wieder überzeugt. An diesem Wochenende stehen in Berlin die deutschen Meisterschaften an, am 15. Juni muss Julia Mrozinski noch ihr mündliches Abitur schaffen, dann geht es im September nach Tennessee (USA), um dort zu studieren und zu trainieren.

„Ich freue mich auf ein neues Kapitel“, sagt sie. Die Spiele in Tokio will sie am Fernseher verfolgen, auch die Schwimmwettbewerbe. „Ich muss doch sehen, wie Hannah mit der Staffel abschneidet“, sagt sie. Und den eigenen Traum von Olympia, den wird sie einfach noch drei Jahre weiterträumen.