John Degenkolb und André Greipel sorgen bei den 18. Vattenfall Cyclassics für einen deutschen Doppelsieg. Beide stehen für sauberen Radsport.

Hamburg. Das Rennen hatte auch bei Frank Bertling Spuren hinterlassen. Im Moment der Entscheidung hatte der Leiter der Vattenfall Cyclassics derart entschlossen die Fäuste geballt, dass es ihm in Höhe des obersten Knopfes glatt das Hemd zerriss. Bertling, Geschäftsführer der Agentur Upsolut, hatte an diesem Sonntagnachmittag durchaus Anlass gehabt, die Brust ein wenig schwellen zu lassen.

Neben den bewährten Zutaten – 800.000 Zuschauer entlang der Strecke, gut 18.000 Jedermannfahrer darauf – hatte die 18. Auflage des Radrennens auch einige glückliche Umstände zu bieten, die so nicht einzukalkulieren waren: das Wetter, das mit Temperaturen bis 25 Grad und Sonnenschein ideal ausfiel, und eben der Zieleinlauf des Profirennens. Gewonnen hat es John Degenkolb. Der Frankfurter vom Team Argos-Shimano setzte sich nach Fünfdreiviertelstunden und 246 Kilometern vor André Greipel aus Rostock durch. Degenkolb machte sich damit dringend der Falschaussage verdächtig. Noch am Sonnabend hatte er im Abendblatt-Interview beteuert, in einem Massensprint gegen Spezialisten wie Greipel keine Chance zu haben.

Das wäre aber auch schon alles, was hinsichtlich Degenkolbs Glaubwürdigkeit kritisch anzumerken wäre. Er ist nicht nur der erste deutsche Sieger in Hamburg seit zwölf Jahren. Seine prominenten Vorgänger, Jan Ullrich (1997) und Erik Zabel (2001), waren einst seine Idole. Inzwischen sind sie als Betrüger entlarvt. Degenkolb, 24, ist damit der erste Cyclassics-Sieger, der für einen neuen, sauberen Radsport steht. Das macht seinen Triumph für Bertling zu einem besonders wertvollen.

Auch Degenkolb selbst ordnete ihn in seiner persönlichen Erfolgsbilanz ganz oben ein, auch wenn die immerhin einen Etappensieg beim Giro d’Italia und sogar fünf bei der Spanien-Rundfahrt umfasst. „Dieses ist mein erster großer Klassikersieg“, sagte er, „es macht mich sehr stolz, den Sprung in diesen Kreis geschafft zu haben.“

Vor zwei Jahren hatte Degenkolb bei Rund um den Finanzplatz Eschborn-Frankfurt triumphiert, einem Rennen, das noch unter dem früheren Namen Rund um den Henninger-Turm den Status eines Klassikers genoss. Allerdings gehören die Cyclassics als mittlerweile einziges deutsches Rennen zur World Tour, der Eliteserie des Radsport-Weltverbandes UCI.

Dass in diesem Jahr gleich zwei einheimische Fahrer vorn lagen, steht für den Aufschwung, den der einheimische Radsport genommen hat. Diese Sichtweise schien es Greipel auch etwas leichter zu machen, seinen zweiten Platz nicht als den des ersten Verlierers zu empfinden: „Man sieht seit drei, vier Jahren, dass der deutsche Radsport Weltspitze ist. Dieses Ergebnis spiegelt das wider.“ Umso bedauernswerter sei es, dass kein deutsches Team in Hamburg vertreten gewesen sei: „Die Fahrer hätten das verdient.“

Womit die exzellente Mannschaftsleistung des Sonntags allerdings nicht herabgewürdigt sein soll. Greipels Mitfahrer vom Rennstall Lotto-Belisol hatten das Geschehen jederzeit unter Kontrolle und sorgten mit dafür, dass die vielen Ausreißversuche letztlich erfolglos blieben. Das Argos-Shimano-Team wiederum brachte seinen Spitzenmann Degenkolb so in Position, dass der auf der Mönckebergstraße seine wohl doch nicht so ungeahnten Qualitäten beim langen Sprint ausspielen konnte.

Degenkolb will zur WM

Natürlich vergaß Degenkolb nicht, sich bei den Kollegen zu bedanken: „Es war eine perfekte Teamarbeit, ein gelungener Tag für die ganze Mannschaft beim ersten Höhepunkt nach der Tour de France.“ Der nächste Höhepunkt für ihn sollen dann die Weltmeisterschaften Ende September in der Toskana sein. Daran, dass der Bund Deutscher Radfahrer den 24-Jährigen nominiert, sollte kein Zweifel mehr bestehen.

In der Zwischenzeit will Degenkolb noch beim World-Tour-Rennen in Plouay (Frankreich) am kommenden Sonntag, dem traditionsreichen Brussels Cycling Classic am 7. September sowie bei zwei Kriterien in Kanada am 13. und 15. September starten, die ebenfalls zur World Tour gehören. Greipel verzichtet freiwillig auf einen WM-Start, weil er sich auf dem hügeligen Kurs keine Chance ausrechnet.

Die Mannschaft sollte auch ohne ihn schlagkräftig genug sein. Marcel Kittel, der bei der Tour de France vier Etappen gewinnen konnte, wird bis dahin den Infekt auskuriert haben, der ihn die Cyclassics-Teilnahme kostete. Und Tony Martin strebt im Einzelzeitfahren seinen dritten Titel hintereinander an. Die nötige Wettkampfpraxis will sich der Cottbuser bei der Spanien-Rundfahrt holen, die am Sonnabend begann.

Dass die Cyclassics in Konkurrenz zur dritten großen Dreiwochentour stehen, ist den Veranstaltern nicht genehm. Auch im kommenden Jahr werden deshalb nicht alle Topleute in Hamburg starten. „Unglücklich“, nennt Bertling die Terminkollision. „Allerdings sind die Topteams inzwischen so gut besetzt, dass sie auch zwei Spitzenrennen parallel bestreiten können.“

Für 2015 will die UCI den Wettkampfkalender neu gestalten. Es ist das Jahr, in dem die Cyclassics zum 20. Mal stattfänden. Für die Jubiläumsedition kündigte Bertling bereits „ein neues Gesicht“ für die Cyclassics an. Bis dahin steht Degenkolb dafür.