Für die Kielerin geht das Märchen von New York weiter. Sie wird in die Top-40 der Weltrangliste aufrücken. Doch das muss nicht das Ende sein.

New York. An die neu gewonnene Popularität muss sich Angelique Kerber erst noch gewöhnen, doch die Sensations-Halbfinalistin von New York scheint derzeit für alles eine Lösung parat zu haben. "Zehn Minuten nach Spielende hatte ich schon rund 50 SMS und 60 E-Mails. Da habe ich einfach mein Handy ausgemacht, denn das war zu viel", erzählte Kerber nach dem 6:4, 4:6, 6:3 im Viertelfinale der US Open gegen die favorisierte Flavia Pennetta aus Italien.

Ihren märchenhaften Triumphzug durch den Big Apple hat die Weltranglisten-92. noch gar nicht so richtig realisiert. "In der Nacht vor dem Viertelfinale bin ich um 3.00 Uhr aufgewacht und wusste nicht, ob ich das alles geträumt habe oder ob es Wirklichkeit ist. Nach dem Matchball konnte ich es gar nicht glauben, und das kann ich auch jetzt noch nicht", sagte Kerber, die am Sonnabendabend im Halbfinale gegen die bärenstarke Sam Stosur (Australien/Nr. 9) auf der größten Tennis-Bühne der Welt im Rampenlicht stehen wird.

Spätestens dann wird der Name Angelique Kerber wohl auch Boris Becker ein Begriff sein. Der dreimalige Wimbledonsieger, der für den englischen TV-Sender Sky aus Flushing Meadows berichtet, musste zwischenzeitlich eingestehen, "dass ich gar nicht so viel über sie wusste".

Inzwischen kennt auch der Weltranglistenerste Novak Djokovic die 23-jährige Deutsche. Der Wimbledonsieger musste vor dem großen Interviewraum warten, ehe die Pressekonferenz mit Kerber beendet und er an der Reihe war. Das deutsche Fräuleinwunder hat neben Andrea Petkovic, die im Viertelfinale gegen die topgesetzte Dänin Caroline Wozniacki verlor (1:6, 6:7), Sabine Lisicki und Julia Görges eine neue Protagonistin.

Und Kerber, die als erste Deutsche seit Steffi Graf 1996 vor 15 Jahren im US-Open-Halbfinale steht, will im Rausch der Gefühle noch mehr. "Es ist ein Traum, aber das Turnier ist noch nicht zu Ende. Ich werde zwar am Samstag nervös sein, andererseits habe ich jetzt nichts mehr zu verlieren", sagte die Kielerin mit den polnischen Wurzeln. Der Genuss, die Freude, der Spaß sollen nicht zu kurz kommen, "aber ich will natürlich vor allem mein bestes Tennis spielen".

Mit dem Ziel "zweite, dritte Runde" war Kerber vor knapp zwei Wochen vom Turnier in Dallas nach New York gereist. An der Ostküste ging nun der Stern der blonden Zopfträgerin auf, die sich selbst als einen ruhigen Menschen mit Kämpferqualitäten sieht. Gegen Pennetta stellte sie diese Qualitäten eindrucksvoll unter Beweis. Nachdem Kerber bereits mit 4:2 im zweiten Satz geführt hatte, gab sie sechs Spiele in Folge ab. "Das war die Phase, als ich angefangen habe zu überlegen. Was wäre, wenn...", verriet Kerber.

Bislang hat sie in Agnieszka Radwanska (Polen/Nr. 12) und Flavia Pennetta bereits zwei gesetzte Spielerinnen ausgeschaltet. Nicht nur Petkovic traut Kerber auch einen Coup gegen die letztjährige French-Open-Finalistin Sam Stosur zu. "Als Linkshänderin kann Angie vielleicht den Kick-Aufschlag von Stosur besser neutralisieren", sagte "Petko", die sich in Sachen Prognose bestätigt fühlen darf.

Die Darmstädterin hatte nach drei gemeinsamen Trainingswochen in der Offenbacher Tennis University von Alexander Waske und Rainer Schüttler prophezeit, dass Kerber in den nächsten Monaten die Top 30 knacken wird. "Ich habe ihr das auch geglaubt, aber dass es so schnell geht, hätte ich wirklich nicht gedacht", sagte die Kielerin, die durch den Halbfinaleinzug im neuen Ranking von Platz 92 auf 34 klettert. Damit ist Deutschland gemessen an der Quantität in den Top 40 die zweitbeste Nation hinter Russland.

Ihr Spiel ist geprägt von einer erstaunlichen Unaufgeregtheit, mit der knallharten Vorhand hat sie einen "Winner" in ihrem Repertoire, der jede Gegnerin zur Verzweiflung bringen kann.

Das mit 23.771 Zuschauern ausverkaufte Arthur-Ashe-Stadium ist für Kerber, die ihre verbesserte Fitness als Erfolgsschlüssel sieht, kein unbekanntes Terrain. Vor vier Jahren stand sie in der Night Session der großen Serena Williams gegenüber - und schlug sich beim 3:6, 5:7 in der ersten Runde wacker. Kerber: "Trotz der Niederlage habe ich das in guter Erinnerung".

Die Tatsache, dass sie bereits ein Preisgeld von 450.000 Dollar sicher hat, verdrängt die 23-Jährige noch: "Ich will gar nicht wissen, wieviel Geld ich bekomme. Ich habe mir schon nach meinen Sieg gegen Radwanska in der zweiten Runde gesagt, ich gucke nicht drauf, was ich verdiene und wie viele Punkte ich für das Ranking bekomme." Immerhin: Die Prämie entspricht mehr als der Hälfte ihrer bisherigen Gesamteinnahmen in acht Profijahren.

Angelique Kerber im Kurzporträt

Name: Angelique Kerber

Geburtstag: 18. Januar 1988

Geburtsort: Bremen

Wohnort: Kiel

Familienstand: ledig, Eltern Slawek und Beata, eine Schwester

Sprachen: Deutsch, Polnisch, Englisch

Spielweise: linkshändig mit beidhändiger Rückhand

Trainingsort: Schüttler-Waske-Akademie in Offenbach

Trainer: Benjamin Ebrahim Zader

Momentane Weltranglistenposition (Stand 9.9.2011): 92

Bisher beste Weltranglistenposition: 45 (am 17. Januar 2011), wird nach US Open unter Top 40 stehen

Größte Erfolge: US-Open-Halbfinalistin 2011, Finalistin beim WTA-Turnier in Bogota 2010, Halbfinalistin in Dallas 2011 und in Luxemburg 2010, 3. Runde bei Australian Open 2010 und in Wimbledon 2010

Karrierepreisgeld: 846 175 Dollar Preisgeld 2011 - vor US Open: 156 887 Dollar

Preisgeld für US-Open-Halbfinale: 450 000 Dollar

(sid/dpa/abendblatt.de)