Michael Müller will 2012 eine Medaille bei den Paralympics holen. Der Bogenschütze ist einer der Kandidaten zur Hamburger Sportlerwahl.

Hamburg. Michael Müllers Schlüssel zum Erfolg liegt hinter seinem rechten Ohrläppchen. Bei jedem Schuss hebt er seinen Bogen, 2500 Gramm schwer, aus Aluminium und Karbon gefertigt. Müller spannt die Sehne, der Pfeil liegt in der Nocke, seine rechte Hand eng an seinem Kiefer. Er fokussiert. Mit dem Knochen seines Zeigefingers erfühlt Müller den Knochen unter dem Ohr. Dort liegt sein Ankerpunkt. Jeder Bogenschütze hat so einen. Nicht immer liegt er hinter dem Ohrläppchen, aber immer müssen sie ihn finden, millimetergenau, damit der Pfeil im Ziel landet. Dann löst Müller den Schuss. Es faucht - und der Pfeil trifft mit 300 Stundenkilometern das Ziel: eine Scheibe, bierdeckelgroß, 90 Meter entfernt.

Vor allem zwei Dinge braucht ein Bogenschütze, sagt Michael Müller: Konzentration und Kraft. Bei einem Turnier schießt er je 36 Pfeile auf eine Zielscheibe in 30, 50, 70 und 90 Meter Entfernung. 144-mal zieht er mit dem rechten Arm 27 Kilo in Richtung Ankerpunkt, bringt Spannung auf die Sehne. Das sind knapp vier Tonnen pro Wettkampf.

Spannen, zielen, schießen - so war es auch, als Müller im Sommer die Bronzemedaille bei der WM der Behinderten in Tschechien mit dem Team holte und Achter im Einzelschießen wurde. Und so war es, als der 52-Jährige in diesem Jahr deutscher Meister wurde, einmal in der Halle, einmal im Freien. Jedes Mal 144 Züge, jedes Mal vier Tonnen. Jedes Mal musste er den Punkt hinter seinem Ohr finden. Haargenau.

Viel Kraft brauchte Michael Müller auch 1995. Als er von Frankfurt zurück nach Hamburg fuhr, raste eine junge Frau mit ihrem Wagen mit 140 Stundenkilometern in sein Auto. Müller verlor sein linkes Bein, seitdem trägt er eine Prothese. Sein rechtes Bein kann er nach jahrelangem Training wieder besser bewegen. Dass es dieser Unfall war, der Michael Müller zu einem der erfolgreichsten deutschen Bogenschützen machte, daran denkt er heute nicht mehr.

Drei Jahre lang ging Müller in die Reha, fast täglich von neun bis 16 Uhr. Zwei Stunden trainierte er mit dem Bogen Muskeln und Motorik. Es dauerte nicht lange, bis Müller merkte, dass er das Schießen nicht nur für seinen Körper braucht. Es wurde sein Hobby, Müller wurde Profi. 15, oft 20 Stunden pro Woche übt er auf dem Schießstand oder zu Hause. Im Sommer zielt er auf Scheiben in seinem Garten, im Winter trainiert er in der Garage. Oft am Wochenende, denn in der Woche arbeitet er 40 Stunden als Personalberater beim Hamburger Berufsförderungswerk. Zu Hause kümmert sich meist Müllers Frau um den jüngsten Sohn und fährt ihn zum Fußballtraining. Dass er so oft am Schießstand steht, akzeptiere seine Familie.

Bogenschießen ist ein leiser Sport. Und Michael Müller ein leiser Mensch. "Micha" ist auf dem Boden geblieben, sagen Freunde am Schießstand. Trotz seiner Erfolge. Und überhaupt ist der Boden für Müller genauso wichtig wie der Bogen. Weil er eine Prothese trägt, kann er nicht mit Zehen und Ballen das Gleichgewicht suchen. Beim Schießen holt er die Stabilität vor allem aus dem Rücken.

Die Prothese bleibt für immer. Aber mit dem Sport holte Müller sich nach seinem Unfall immer auch ein Stück Lebensqualität zurück. Vielleicht habe er auch deshalb so viel Energie für eine Woche zwischen Personalberatung und Schießbahn. 2012 will er eine Medaille bei den Paralympics in London holen.

Am Anfang seiner Karriere, als Müllers Hand noch nicht so sicher war und die Routine noch fehlte, da war er vor allem von den Fotografen am Schießstand geschockt. Mit ihren Spiegelreflexkameras haben sie Müllers Konzentration gebrochen: Klackklackklackklackklack. Bei jedem Schuss. Das war vor mehr als zehn Jahren. Irgendwann hat Müller das Klacken nicht mehr gehört, wenn er nach seinem Ankerpunkt fühlte. Er hat es ausgeblendet, wie alle anderen Geräusche. Wenn er heute die Scheibe mit seinem Bogen fixiert, ist es still in seinem Kopf. Egal, wie viele Fotografen am Schießstand sind.