Die Skiregion Trois Vallées verändert ihr Gesicht: Naturstein und Holz verdrängen hässlichen Beton.

Der Sturm auf die Burg hat begonnen. Statt mit Lanzen und Schwertern sind die kleinen Schneeritter von heute mit knallbunten Rutschsitzen bewaffnet. Ist am frühen Nachmittag der Skikurs beendet, geht es mit den flachen Plastiktellern hinein in das eisige Gewirr von Türmchen, Wehrgängen und Torbögen. Mama und Papa beobachten das Treiben im künstlichen Schnee-Chateau von ihrem nahen Balkon aus. Im Zentrum von Les Menuires, dem größten Ort im savoyardischen Belleville-Tal und der weltgrößten Skiarena Trois Vallees, bestimmen kantige Hochhäuser die Szenerie.

40 Jahre ist es her, dass in dem abgelegenen Tal gut 60 Kilometer südlich von Albertville der Tourismus einzog. "Bis dahin gab es hier nur ein paar Bauern und jede Menge Kühe", erinnert sich George Cumin. Der heute 82-Jährige hat als Bürgermeister 24 Jahre lang die Geschicke der Gemeinde St. Martin de Belleville wesentlich mitbestimmt. An die 1000 Menschen lebten Anfang der 1960er-Jahre in dem Dorf mehr schlecht als recht und träumten von einem besseren Leben. Nur zwei Täler weiter, in Courchevel, wegen seines vor Geld strotzenden Publikums bis heute das "St. Tropez der Alpen" genannt, haben es schließlich die Skipioniere der 60er-Jahre erfolgreich vorgemacht. Warum also sollte es nicht auch im Belleville-Tal klappen?

Der Masterplan, der nicht weniger als 100 000 Betten in den beiden Trabanten-Resorts "Les Menuires" und "Val Thorens" wenige Kilometer oberhalb von St. Martin vorsah, zeichnete sich nicht gerade durch Bescheidenheit aus. Architekten der Bauhaus-Schule wurden engagiert, um Skistationen urbanen Stils zu schaffen. Schließlich wollte man den Städtern zeigen, wie fortschrittlich es sich hinter den Bergen lebt. Vor allem den Parisern, die sie bis heute nicht sonderlich mögen, obwohl diese immer noch in Scharen mit ihrem Geld einfallen und sich in die nicht mehr ganz neuen Hochhaus-Apartments drängen wie die Bienen in die Waben.

Doch nicht alle teilen diese Vorliebe, am wenigsten die Deutschen. George Cumin und sein Gemeinderat erkannten Anfang der 80er-Jahre die Zeichen der Zeit und revidierten den Entwicklungsplan. Ab jetzt sollten kleinere Häuser entstehen, maximal sechs Stockwerke hoch, bevorzugt im traditionellen Stil der Region, mit viel Holz und grauem Bruchstein. Auch der Schutz der Umwelt wurde plötzlich entdeckt. Fast 300 000 Bäume ließ Cumin pflanzen, um der Erosion an den kahlen Felshängen der 3000er-Riesen ringsum Einhalt zu gebieten und dem Tal einen grüneren Charakter zu verleihen. "Das Entscheidende aber war die Reduzierung der Bettenzahl", sagt der ehemalige Bürgermeister. Die geplante Mega-Ski-Polis von einst sollte jetzt nur noch halb so groß werden. "Und mehr als 50 000 Betten wird es hier nicht geben", sagt George Cumin.

An einem Grundprinzip für entspannenden Winterurlaub wurde indes nicht gerüttelt. Alle Wohnungen haben direkten Zugang zu den Pisten. "Ski piede" nennen die Franzosen, was in Kanada "Ski in, Ski out" heißt und in so manchen "gewachsenen" Wintersportorten Österreichs oder der Schweiz kein Thema ist. Wer allmorgens nur zwei Schwünge bis zum nächsten Lift benötigt, kann die Routenplanung im gigantischen Netz der Abfahrten etwas gelassener angehen. Sagenhafte 600 Kilometer wollen erobert werden. Die Vielfalt der Pisten bringt - trotz perfekter Ausschilderung - mitunter Probleme mit sich. Gerard Tiggeler kann davon ein Lied singen. Von halb zehn Uhr morgens bis kurz vor fünf sitzt der 43-Jährige in Diensten der Liftgesellschaft Sevabel Tag für Tag in seiner Info-Hütte am Mont de la Chambre und versorgt die Brettlfans mit heißen Tipps. "Die meisten haben sich verfahren und suchen nach der schnellsten Route zurück", berichtet der gebürtige Holländer, der vier Sprachen fließend spricht. Manche lassen sich auch beraten, welche Pistenkombination die schönste ist. Der blonde Hüne mit dem Stoppelbart muss da nicht lang überlegen. "Immer der Sonne nach", heißt seine Devise. "Wer morgens in Les Menuires startet, über den Mont de la Chambre, dann den Mont du Vallon nach Meribel hinunterfährt, um anschließend über den Col de la Loze Courchevel anzusteuern und dann umkehrt, der fährt den ganzen Tag in der Sonne."

Auf der letzten Abfahrt vom Gipfel 3 Marches knapp 1000 Höhenmeter hinunter nach Les Menuires zeigt der Ort seine verschiedenen Gesichter. Die Wohnburgen der 70er im zentralen Ortsteil La Croisette, bereits aufgelockerte Architektur in Les Bruyères und Les Bouquetins, unddie neuen Viertel La Sapinière und Reberty, geprägt von den urgemütlichen Häusern der komfortablen Chaletdörfer Les Montagnettes und Les Alpages. "Les Menuires hat sich in den vergangenen 20 Jahren gewandelt und wandelt sich weiter", sagt Tourismusdirektorin Regine Jay-Grillot. Statt auf Quantität werde verstärkt auf Qualität gesetzt. Beispiel: Die ersten Bettenbunker der 60er, die Anlagen Le Solaret und Les Clarines, wurden erst kürzlich plattgemacht und wichen Chaletdörfern, in denen Holz und Naturstein dominieren. Dem Baustil von heute folgt auch das neue kommunale Schwimm-, Sauna- und Sportcenter, das die Gemeinde für 15 Millionen Euro unweit des Kulturhauses errichtete und in dem regelmäßig Konzerte stattfinden - von der Klassik bis zum Jazz. Der filigrane Glockenturm aus Holz, mit dem sich George Cumin noch kurz vor seinem Amtsende 2001 ein Denkmal setzen ließ, weist den Weg in die Zukunft. "Und nicht zuletzt wurden die Sprachbarrieren abgebaut", erzählt Jay-Grillot. Englisch und meist auch Deutsch sind heute Standard in Restaurants, Geschäften und Skischulen.

Die Kinder haben da eh die wenigsten Probleme. Beim Sturm auf die Eisburg in La Croisette verstehen sich die Skizwerge aus Frankreich, England und Deutschland prächtig. Der rutschige Spaß übers kalte Weiß ist schließlich international.