Ardennen: Auf den Routen der Vergangenheit. In vielen Orten des Berglandes, das sich Belgien, Frankreich und Luxemburg teilen, scheint die Zeit stehen geblieben zu sein.

Das schmale, von Hecken gesäumte Sträßchen scheint nicht recht zu wissen, wohin es uns bringen soll. Es geht bergauf und bergab, nach links und wieder jäh nach rechts, auf jeder Kuppe scheint es innezuhalten und zu überlegen. Schließlich erreicht es doch noch sein Ziel. Steil und schnurgerade schießt es von der Höhe ins Tal hinab, auf eine Handvoll Häuser zu, die sich jenseits einer kleinen Brücke an den Hang ducken.

Auf der Ortstafel lesen wir den Namen: Celles.

Celles ist das, was man ein Bilderbuchnest nennt, sieht aus als hätte das Kind eines Riesen hier gespielt. Aus grauem Bruchstein sind die Häuser, mit dunklem Schiefer gedeckt. Über dem Ort thront am Berghang eine der schönsten romanischen Kirchen des Maaslandes. Sie birgt das Grab des einst viel verehrten heiligen Hadelin. Auch Pipin und Karl der Große sollen glühende Verehrer des Heiligen gewesen sein und ließen nahe dem Grab eine Burg bauen, die sich inzwischen zum stattlichen, heute als Museum geführten Schloss gemausert hat, Veves. Sie wollten immer wieder dem Heiligen möglichst nahe sein. Was macht es schon aus, dass Hadelin heute im römischen Heiligenkalender nicht mehr geführt wird? Das tut dem Zauber des Walddorfes keinen Abbruch.

Ehrlich gesagt, sind wir auch nicht des heiligen Hadelin wegen nach Celles gekommen, sondern wegen eines der meistgerühmten Tempel des sympathischen Gottes Lukull im ohnehin bei Gourmets geliebten Belgien, dem "Val Joli". In der Nacht ächzt es im Gebälk des alten Hauses, und wir träumen von Karl dem Großen und dem heiligen Hadelin, vom Ritter Haymon und seinen Söhnen, die auf dem Riesenpferd Bayard zu viert durch die Ardennenwälder irrten und von all den anderen Sagengestalten, die heute noch in den Ardennen lebendig sind.

Ardennen? War da nicht etwas? Ach ja, die Ardennenschlacht des Zweiten Weltkrieges. Ja und natürlich der köstliche Ardenner Schinken. Aber sonst? Wir können in Ruhe sinnieren bei dieser Fahrt durch das Bergland, dessen Löwenanteil Belgien besitzt, und dessen Rest sich Frankreich und Luxemburg teilen und das in der Höhe von Botrange mit 694 Metern seine höchste Erhebung erreicht. Kaum ein Fahrzeug, erst recht keines mit deutschen Kennzeichen kommt uns entgegen. Ist die Zeit hier stehen geblieben?

"In meines Vaters Heimat gibt es Wälder sonder Zahl! Zuweilen lassen Wölfe dort im Schatten ihre Augen leuchten", dichtete einst der Franzose Paul Verlaine. Er verbrachte als Kind und Jugendlicher viele Jahre lang seine Ferien bei einer Tante in einem kleinen Ardennendorf. Wölfe gibt es nicht mehr in den Ardennen, in dem Bergland, das die Kelten nach ihrer Jagdgöttin Arduinna benannten, aber die Wälder sonder Zahl sind immer noch das prägende Element für diese bei uns so wenig bekannte Landschaft, in der der Dichter Paul Verlaine uns immer noch begegnet. Ziert sein Porträt doch zusammen mit dem seines Freundes Arthur Rimbaud jene Tafeln, die die touristische "Route Rimbaud-Verlaine" markieren.

Diese Route führt durch das französische Ardennendepartement in kleine Dörfer, in denen sich oft winzige Häuser aus grauen Steinen unter blau-schwarzen Schieferdächern wie zu Verlaines Zeiten ducken, nach Charleville-Mezières. 1854 wurde hier der Dichter Arthur Rimbaud geboren, der seine Heimatstadt gehasst hat und dennoch immer wieder zurückkehrte, hier auch begraben ist.

Fast vierzig touristische Routen, mit kleinen weißen Tafeln markiert, auf denen Kinder bunte Blumensträuße tragen, Karl der Große oder schwer bewaffnete Ritter zu sehen sind und andere bunte, oft lustige Symbole schon verraten, welchem Thema die Route gewidmet ist, sind über die Ardennen verteilt. Sie erschließen das Bergland als eine hierzulande kaum bekannte Schatzkammer der Sagen und Legenden, der Burgen und Schlösser.

Reich ist dieses Bergland in seinen oft schluchtartig eingeschnittenen Waldtälern an uralten Klöstern und romanischen Kirchen, an manchmal bilderbuchreifen kleinen Städten wie Durbuy, Laroche, Esch an der Sauer und nicht zuletzt den Stätten des guten Essens und Trinkens und der augenzwinkernden Erinnerung an lustige Begebenheiten. In den oft abgelegenen Weilern am Rande des Ourthetales in der Provinz Lüttich war es für Kinder früherer Zeiten sicherlich mühsam, stundenlang zur Schule zu laufen, doch auch viel schöner, in den waldreichen Tälern mit ihren Mühlen den Tag zu verbummeln. Durch diese Landschaft führt verständlicherweise die "Route Boissonière", die Route der Schulschwänzer.

Es hat Kriege in den Ardennen gegeben, die uns heute - bei allem Ernst - als Komödie vorkommen möchten. Einem solchen Komödienkrieg ist die "Route Guerre de la Vache" in der belgischen Provinz Namur gewidmet. Diese Route des Kuhkrieges führt vom Wasserschloss Spontin durch eine von Viehwirtschaft geprägte Gegend: Weiße Kühe glotzen uns mit großen Augen hinterher, als wir auf schmaler, heckengesäumter Straße dort durchs Land fahren. Wann kommt hier schließlich einmal ein fremdes Fahrzeug des Weges?

Tatsächlich haben hier von 1271 bis 1273 feindliche Heere miteinander gekämpft, weil ein Bauer eine Kuh gestohlen hatte und von den lokalen Behörden des Grafen von Namur kurzerhand am nächsten Baum aufgeknüpft worden war. Doch der Dieb kam aus dem Territorium des Fürstbischofs von Lüttich. Der wollte die Exekution nicht hinnehmen und schickte seine Soldaten gegen den unbotmäßigen Grafen von Namur.

Als idyllischster Fluss in den Ardennen gilt die Semois, die sich in unzähligen Windungen der Maas entgegenschlängelt. Tagelang sind wir auf ihr mit dem Faltboot dahingepaddelt. Sind durch Bouillon gekommen, an Belgiens größter Burg vorbei. Der Ritter Gottfried von Bouillon hat sie einst gebaut und gleich darauf dem Fürstbischof von Lüttich verkauft. Er brauchte Geld, um am ersten Kreuzzug teilnehmen zu können. Von seiner Pfalz in Aachen ist Karl der Große wohl häufig durch das Bergland gezogen.

In der waldreichsten belgischen Provinz, der Provinz Luxemburg, ist es vor allem die "Route des Forêts", die Route der Wälder, die Waldeinsamkeiten voller Überraschungen erschließt. Wir stoßen da auf die gewaltigen Ruinen von Orval, einst eine der bedeutendsten Zisterzienserabteien Europas. Heute leben Trappistenmönche in der neuen Abtei, die neben den Ruinen entstand. Sie sind berühmt durch das Bier, das sie nach alter Rezeptur brauen, das dunkle, schwere und ach so süffige Trappistenbier.

Tage später bringt uns die "Route des Paysages insolites", die Route der ungewöhnlichen Landschaften, nach Hans-sur-Lesse. Die Lesse, ein ungebärdiger Ardennenfluss, Liebling der Wildwasserkanuten, versteckt sich allzu gern. Und so verschwindet sie am Ortsrand von Han, kommt erst viele Kilometer später wieder aus dem Berg heraus. Als wir ihr in den Berg hinein folgen geraten wir in Aladins Schatzkammer, in die glitzernde und faszinierende Welt der nach Adelsberg/Postoina in Slowenien größten und reichsten Tropfsteinhöhle Europas.