Im September 1991 reckte “Ötzi“ seinen Kopf aus dem Eis der Alpen - heute nährt der älteste erhaltene Mensch der Welt eine ganze Industrie.

Es liegt nicht am Nürnberger Ehepaar, das die Gletschermumie fand, dass man in Südtirol deutsche Urlauber mit einem leicht chauvinistischen Witz verblüfft. Ötzi, heißt es, kann kein Italiener gewesen sein, er hatte gut sortiertes Handwerkszeug dabei. Er kann auch kein Österreicher gewesen sein, denn er war perfekt organisiert. "Er muss ein Deutscher gewesen sein", japsen die Bergführer schon vor der Pointe, "denn welcher Depp geht sonst mit Sandalen in einen Gletscher!"

Am Anfang stand eine unglaubliche Verkettung von Umständen. Als am 19. September 1991 zwei routinierte Bergwanderer im Urlaub in Südtirol am Tisenjoch in 3210 Meter Höhe eine Abkürzung nahmen, entdeckten sie in einer dicken Eisschicht den dunklen Hinterkopf und die Schultern eines erfrorenen Menschen. "Wir haben den Wirt der Similaunhütte informiert, und der hat die Bergrettung alarmiert", erinnert sich Erika Simon, 71. Ihr Mann Helmut, der die eingefrorene Leiche in einer Felsmulde auch fotografierte, ist mittlerweile gestorben. Als Ehrenbürgerin des Ötztals ist Erika Simon oft im Urlaub dort, aber an die Fundstelle kehrt sie nicht mehr zurück. "Ötzi hat vielen Glück gebracht, uns nicht", sagt sie. "Am Ende mussten wir sogar einen Prozess gegen die Regierung von Südtirol führen, um als Finder anerkannt zu werden." Der Finderlohn von 175 000 Euro ging fast zu einem Drittel an die Anwälte. Aber Ötzi wurde von der Mumie zur archäologischen Weltsensation, viele Millionen werden in Forschung und Tourismus mit ihm umgesetzt.

+++Sonderausstellung "Ötzi" läuft bis 12. Januar 2012+++

+++Wer hat Ötzi umgebracht?+++

1991 war ein heißer Sommer, ein Scirocco schaufelte in der Sahara aufgewirbelten Sand tonnenweise nach Europa. Er bedeckte als rötliche Schicht die Gletscher, und die schmolzen so schnell wie nie, erinnert sich der Ex-Chef der Bergwacht, Alois Pirpamer, heute 74. Er weiß noch genau, dass er beim Ausrücken traurig dachte, wieder ein Bergwanderer, der sich zu viel zugetraut hat. Das Gletscherschmelzen hatte bereits fünf Leichen freigelegt. Als er mit einem Kollegen den festgefrorenen Körper mit einem Eispickel freihackte, kam zufällig Reinhold Messner vorbei, beäugte den Toten und meinte, der liege seit mindestens 300 Jahren im Eis.

Zu knapp geschätzt. 5300 Jahre lag der Mumifizierte wie im Gefrierfach in Eis konserviert. Ötzi, wie er bald hieß, stammt aus dem Neolithikum, ist der älteste vollständig erhaltene Vorfahre des Homo sapiens, 2000 Jahre älter als die bis dahin berühmteste Mumie, Pharao Tutanchamun. Laut Professor Albert Zink, Leiter des "Instituts für Mumien und den Iceman" in Bozen - eigens wegen Ötzi gegründet -, "der meist- und bestuntersuchte Mensch aller Zeiten". Anthropologen, Mediziner, Genexperten, Kriminaltechniker und andere Fachleute von über 70 Wissenschaftsteams haben Ötzis Leiche penibel geprüft.

Ötzi war höchstens 46 Jahre alt, 160 Zentimeter groß, wog 50 Kilo. Er hatte Schuhgröße 38, dunkelbraunes, gewelltes, mittellanges Haar und braune Augen - sowie 50 Tattoos in Form von Kreuzen und Strichbündeln am ganzen Körper. Zwischen den Schneidezähnen klafft ein Spalt von drei Millimetern, alle Weisheitszähne fehlen, ebenso das zwölfte Rippenpaar. Seine Zähne sind stark abgenutzt, Spuren von Karies, seine Blutgefäße verkalkt, die Gelenke zeigen eine Arthrose. Seine Lunge ist schwarz, er hielt sich viel am offenen Feuer auf. Der Darminhalt ist ein Brei aus Körnern, Gemüse und fettem Steinbockfleisch, noch unverdaut, als er starb. Die Todesumstände waren von starkem körperlichen Stress bestimmt, er hat sich in Ötzis Fingernägeln abgelagert. Der Leichnam hat eine tiefe Wunde an der rechten Hand zwischen Daumen und Mittelhandknochen, ein gebrochenes Nasenbein, eine zertrümmerte hintere Schädeldecke. Fazit: Ötzi ist hinterrücks ermordet worden. Ein Pfeil mit steinerner Spitze traf ihn in die Schulter, zerriss die Halsschlagader, er verblutete in wenigen Minuten. Dann wurde er eingeschneit und tiefgefroren.

Der Flug mit dem Hubschrauber aus dem Schnalstal zum Tisenjoch führt über eine majestätische Gipfelparade, der Pilot sitzt mit sicherer Hand am Steuer. Die Landung findet auf österreichischem Staatsgebiet statt, ein Steinhaufen auf dem Geröllfeld erinnert an den Fund. Die Österreicher haben Ötzi geborgen, aber sie hatten Pech, der Steinzeitmann lag 92,56 Meter von ihrer Staatsgrenze entfernt auf italienischem Gebiet. 1998 wurde die Mumie hergegeben, ihr Transport von Innsbruck nach Bozen war polizeilich gesichert, Tiroler Nationalisten hatten Anschläge angekündigt.

Auf dem Weg zum Schneefeld erklärt Johanna Niederkofler, Leiterin des Archeoparcs im Schnalstal, das Ötzis Lebensraum dokumentiert, wie schwierig die Deutung um den Tod des Neolithikers ist. War er auf der Flucht? Hatte er Ehebruch begangen und wurde von einem Gehörnten verfolgt? War er ein Schamane, den man loswerden wollte? Ein Handelsreisender, der etwas mehr besaß als andere, so ein wertvolles Kupferbeil als Statussymbol? Ein Häuptling, der von Jüngeren verdrängt wurde? Ein Jäger, Hirte oder Krieger? So viele Fragen. Ötzi genoss seine Brotzeit, seinen Bogen hatte er an die Felswand gelehnt. Als er starb, hatte er einen Dolch aus Feuerstein in der Hand, damit zerschnitt er seine Henkersmahlzeit. "Wer es so gemütlich angeht, geht nicht davon aus, in Gefahr zu sein", sinniert Johanna Niederkofler.

Niemand hat die definitive Antwort, aber die Welt hat Ötzi. Brad Pitt trägt den Steinzeitmann als Tattoo am Unterarm, Dutzende Krimis, Romane und Comics sind erschienen, Mumienkonferenzen nähren Forscher, die Esoterik hat sich des Kleinwüchsigen bemächtigt, und Frauen haben in Briefen an Forscher angeboten, mithilfe des in Ötzis Körper tiefgefrorenen Spermas einen Nachfahren auszutragen. DJ Ötzi verdient gut mit dem entliehenen Namen, in Planung sind das Bühnenstück "Frozen Fritz" sowie ein Ötzi-Musical, und Menschen aus aller Welt sind, wie einer schrieb, "überzeugt, dass ich mit dem Mann aus dem Eis verwandt bin". In Umhausen auf österreichischer Seite gibt es ein "Ötzi-Dorf", das Wohnen und Zusammenleben vor 5000 Jahren nachstellt und in jeder Saison 50 000 Besucher anlockt, im Schnalstal auf italienischer Seite den Archeoparc und in Bozen das Archäologiemuseum mit bisher drei Millionen Besuchern, dessen Sonderausstellung alles Dagewesene übertrifft.

Das verschrumpelte Leichtgewicht mit nur noch 154 Zentimetern und 15 Kilo ruht in der panzerscheibengeschützten Kühlkammer bei minus sechs Grad Celsius. Besucher stellen sich an, jeder hat einige Sekunden zur Andacht. Ötzi ist eine Mumie, die zur Marke wurde. Jeden zweiten Monat bekommt er eine Frischzellenkur aus destilliertem Wasser, weil er täglich zwei Gramm davon verliert. Das Wasser bildet eine dünne Eisschicht und bringt die ledern anmutende Haut zum Glänzen. Im Krankenhaus Bozen hat Ötzi eine zweite Kühlkammer, falls die im Museum mal ausfällt, und überwacht wird er von seinem Leibarzt, dem Pathologen Eduard Egarter Vigl. Die Forschung will nun sogar anhand des analysierten Erbguts von Ötzi Anlagen für Erkrankungen finden. Alle bedeutenden Forscher wollen an die Leiche ran, es werden Millionen geboten.

Doch in der Felsmulde denkt man sich: Hat der Gletschermann nicht seine Ruhe verdient? Der magere Mumienstar sieht erschöpft aus, zu oft misshandelt auf dem Seziertisch, täglich grellem Licht ausgesetzt. Man hat Mitleid mit ihm. Und stellt sich dann im Bozener Museum doch ein zweites Mal in die Besucherreihe, um sich von Ötzi zu verabschieden.