Zum Prozessauftakt im Mordfall der ermordeten Hamburgerin Vasthi G. erhebt die Schwester nun schwere Vorwürfe gegen die Gesetzgeber.

Großhansdorf/Lübeck. Wie konnte es sein? Viele Gedanken, die Alexandra Brockmann dieser Tage durch den Kopf gehen, beginnen mit diesen Worten. Und ebenso viele Sätze, die sie ausspricht. Morgen wird die 40-Jährige im Landgericht Lübeck auf den Mann treffen, der ihre kleine Schwester getötet hat. Die Heilerziehungspflegerin Vasthi G., 23, war in der Nacht zum 18. März dieses Jahres während ihres Dienstes im Großhansdorfer Haus Rümeland erstochen worden. Der vorbestrafte Gewalttäter Martin H., 27, muss sich nun wegen Mordes vor der I. Großen Strafkammer verantworten. Er hatte G. im Schwesternzimmer der Wohneinrichtung für psychisch Kranke überrascht und wahrscheinlich im Schlaf erstochen.

Wie konnte es sein? "Nach einem ersten Rückzug ins Private hat sich unsere Familie im Sommer auch an die Landesregierung gewandt", sagt Alexandra Brockmann. Die Familie bat Justiz- und Sozialministerium in Kiel um Stellungnahmen. Mehr noch: Sie forderte dazu auf, die Rechtsgrundlagen für die Unterbringung von psychisch Kranken und Gewalttätern zu untersuchen, behördliche Kontrollmechanismen unter die Lupe zu nehmen und die Situation der Mitarbeiter in Wohngruppen mit psychisch Kranken und Gewalttätern zu prüfen.

Wie konnte es sein, dass eine Berufsanfängerin nachts allein Dienst tun musste? "Es war erst Vasthis siebte Nachtschicht", sagt Alexandra Brockmann. Der Einsatz als Nachtwache sei so etwas wie eine Einarbeitung gewesen. Lohn: 2,50 Euro brutto pro Stunde. Und wie konnte es sein, dass ein verurteilter Gewaltverbrecher in einer offenen Wohngruppe lebte? Wie konnte es sein, dass deren Leiterin weder eine psychologische noch eine psychotherapeutische Ausbildung haben, sondern gelernte Altenpflegerin sein soll?

Hinterbliebene wollen, dass sich so eine Tat nie wiederholt

Vasthi G. stellte diese Fragen vor ihrem Arbeitsantritt nicht. Wie sollte sie auch? Vieles von dem, was ihre große Schwester mittlerweile in Erfahrung gebracht hat, konnte sie gar nicht wissen. Alexandra Brockmann: "Meine Schwester hat sich doch auf das System verlassen." Sie hat dieses Vertrauen mit dem Leben bezahlt.

Die Familie setzt sich seitdem mit Nachdruck dafür ein, dass sich so eine Tat wenigstens niemals wiederholt. "Es ist uns ein Anliegen, dass der Mord an Vasthi den Anstoß gibt, Rechtsgrundlagen und behördliche Kontrollvorgaben zu prüfen", sagt Brockmann. "Wir wünschen uns, dass die Menschen, die in vergleichbaren Einrichtungen arbeiten, besser geschützt werden."

Mittlerweile ist eine Antwort aus Kiel eingetroffen. Zufriedenstellen kann sie Vasthi G.'s Familie nicht. Alexandra Brockmann: "Das Sozialministerium verweist auf das laufende Ermittlungsverfahren. In dem Schreiben heißt es, die Bewertung der Begleitumstände der Tat falle in die Zuständigkeit des Gerichts." Und: Minister Garg werde sich bei nächster Gelegenheit mal mit den Kreisen besprechen. "Ganz ehrlich: Das ist eine höfliche Absage", meint Alexandra Brockmann.

Auch sie weiß: Es ist außerdem schlicht unzutreffend, dass ein Strafverfahren Raum für Erörterungen grundsätzlicher Natur bietet. "Darin geht es schließlich um Herrn H., dem der Prozess gemacht wird", sagt Brockmann. Einige Umstände, die in unmittelbarem Zusammenhang mit der Tat stehen, dürften dennoch zur Sprache kommen. Weshalb zog Martin H. ein halbes Jahr vor der Tat aus einer Flensburger Einrichtung nach Großhansdorf um? Wer hat das psychiatrische Gutachten erstellt, dass er wohngruppentauglich sei? Wie oft hat der Gutachter Martin H. gesehen oder mit ihm gesprochen? Hatte Martin H. einen Betreuer? Welche Rolle spielte der?

Wie konnte es sein? Alexandra Brockmann wird Fragen stellen. Denn die Familie, die vom Mainzer Strafrechtler Niko Brill vertreten wird, tritt geschlossen als Nebenkläger auf. Zunächst sind sieben Verhandlungstage angesetzt. Ein Urteil könnte am 5. November gefällt werden. Alexandra Brockmann: "Wir hoffen und rechnen mit einer lebenslangen Freiheitsstrafe."