Der Vorwurf gegen die Betreiber lautet: Warum ist eine junge Berufsanfängerin nachts mit zwölf psychisch Kranken allein?

Hamburg. Wäre diese Tat vermeidbar gewesen? Es ist, unendlicher Trauer zum Trotz, diese eine, diese bohrende Frage, die sich Alexandra Brockmann (40) aus Tostedt wieder und wieder stellt. Könnte Vasthi Leona G., könnte ihre kleine Schwester, noch leben? Die 23 Jahre alte Hamburger Heilerziehungspflegerin war am Donnerstag vergangener Woche während ihrer Nachtschicht im Großhansdorfer Haus Rümeland, einem Pflegeheim für Menschen mit psychischen Erkrankungen, getötet worden. Der 26 Jahre alte Bewohner Martin H. stellte sich 30 Stunden später bei der Polizei in Flensburg und gestand die Tat (wir berichteten).

Die Familie erhebt nun schwere Vorwürfe gegen die Verantwortlichen auf allen Ebenen und fordert eine schonungslose Aufklärung. Alexandra Brockmann: "Das, was in Haus Rümeland geschehen ist, darf sich niemals wiederholen. Es ist unser tiefer Wunsch, dass dieser Mord den Anstoß gibt, die bestehenden Gesetze zu prüfen und so zu ändern, dass die Menschen, die in solchen Einrichtungen arbeiten, besser geschützt sind. Und ihren Einsatz für andere Menschen nicht mit ihrem Leben bezahlen müssen."

Da ist zum Beispiel die Frage, weshalb eine 23 Jahre alte Berufsanfängerin nachts mit zwölf psychisch Kranken allein gelassen worden ist. ",Mensch, was mache ich bloß, wenn ich in eine unvorhergesehene Situation komme?' Das hat sie mich noch gefragt, als sie mich am Wochenende vor ihrem Tod besucht hat", sagt die ältere Schwester. Zum 1. April habe Vasthi eine Festanstellung als pädagogische Mitarbeiterin in der Einrichtung bekommen sollen. "Zwei Tage im März hatte sie die Arbeit beobachtet, dann sollte sie zur Einarbeitung und Vorbereitung einige Nachtschichten übernehmen."

Und es gibt noch viele Fragen mehr, Fragen von grundsätzlicher Bedeutung wie diese: Warum wohnt ein verurteilter Straftäter in einer offenen Wohngruppe für psychisch Kranke? Wie kommen die Bewohner in das Haus Rümeland? Wer vermittelt sie? Welche Art von psychischen Erkrankungen haben die Bewohner des Hauses? Sind Nachtbereitschaften eine geeignete Form der Einarbeitung? Stimmt es, dass weder Mitarbeiter noch Heimleiterin eine psychologische Ausbildung haben, wie die Familie erfahren haben will?

Und dann sind da noch die Fragen zur Tat selbst: Weshalb zog der mutmaßliche Mörder Martin H. etwa ein halbes Jahr vor der Tat in die Einrichtung um? Woher hatte der Täter die Tatwaffe? Wer hat das psychiatrische Gutachten erstellt, dass Martin H. wohngruppentauglich sei? Wie oft hat er den Täter gesehen oder mit ihm gesprochen? Welche Rolle spielt der Betreuer Martin H.s?

Das Hamburger Abendblatt hat ähnliche Fragen in der vergangenen Woche bereits an die zuständige Staatsanwaltschaft Lübeck gerichtet - und unter Berufung auf das laufende Ermittlungsverfahren gegen Martin H. keine Antworten erhalten. Auch die Heimleitung hat sich bislang nicht geäußert. Astrid Matern von der zuständigen Heimaufsicht beim Kreis Stormarn in Bad Oldesloe betont unterdessen, dass die Besetzung der Nachtschicht mit einer Person den Vorschriften entspreche. Matern: "Einer ist okay." Eine besondere Qualifikation sei nicht notwendig.

Der Mainzer Strafrechtler Niko Brill, der die Hinterbliebenen vertritt, werde nun strafrechtliche Konsequenzen für die Verantwortlichen prüfen, sagt Alexandra Brockmann.

Es bleibt diese eine Frage: Wäre der Mord vermeidbar gewesen? Alexandra Brockmann möchte es wissen. Trotzdem: "Meine Schwester, so lebensfroh, klug, empathisch, hilfsbereit, liebenswürdig, beliebt, mit einzigartigem Humor und voller Energie, der Wunderbarste Mensch, den man sich vorstellen kann, kann nichts mehr zurückholen."