Eine frühere Gymnasiastin der Stormarnschule wirft dem ehemaligem Ahrensburger Pastor Dieter Kohl sexuelle Übergriffe im Unterricht vor.

Ahrensburg. Sie hat lange geschwiegen. Zu quälend sind die Bilder, die sie auch nach rund 20 Jahren nicht loslassen. "Er war im Vergleich zu mir ein starker Mann. Und ich war 16 Jahre alt und hatte Todesangst, weil ich gar nicht wusste, was das alles bedeutet", sagt Ute (Name geändert). Im Gespräch mit dem Abendblatt schildert sie traumatische Erinnerungen: sexuelle Übergriffe ihres Religionslehrers Dieter Kohl. Jener Ahrensburger Pastor, der für den größten Missbrauchsskandal in der evangelischen Kirche sorgte und der offenbar in seinem Treiben auch nicht vor den Toren der Stormarnschule Halt gemacht hat, wie NDR Info und das Schleswig-Holstein Magazin gestern berichteten. Bislang waren es Gerüchte. Mit Ute hat sich jetzt das erste Mal eine ehemalige Schülerin als mutmaßliches Opfer gemeldet.

"Er stand hinter mir und hat mich im Unterricht angefasst. Die Jungs in der Klasse haben sich einen gefeixt. Sie haben sich darüber gefreut, statt mir zu helfen", sagt Ute. "Zwei Jahre ging das. Ich habe mich so elend gefühlt."

"Wir sind erschüttert, dass es offenbar auch an der Stormarnschule zu einem Fall sexualisierter Gewalt durch den ehemaligen Pastor Kohl gekommen ist", sagt der stellvertretende Sprecher der Nordelbischen Kirche, Mathias Benckert. Während des Ermittlungsverfahrens gegen Kohl habe es keine Hinweise auf Taten an dem Gymnasium gegeben. Benckert: "Jetzt können wir disziplinarisch nicht mehr gegen ihn vorgehen, weil er nicht mehr Pastor ist."

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Auch im Kieler Bildungsministerium werden die Aussagen sehr ernst genommen. "Das ist eine veränderte Sachlage", sagt Sprecher Thomas Schunck. Stormarnschule und der Schulträger - die Stadt Ahrensburg - müssten den Sachverhalt aufklären. Das Ministerium bleibe dran, ob das auch stattfinde. Ein Disziplinarverfahren gegen Kohl werde es auch hier nicht geben. Schunck: "Kohl ist nicht mehr aktiv, und er war auch nie Lehrer, sondern abgeordneter Kirchenmann."

Die Informationen zur Kenntnis nehmen, aufklären - darum geht es Ute. Damals habe niemand hingeschaut. Mit niemandem habe ich reden können", sagt die Frau, die vor Jahren aus Ahrensburg weggezogen ist. "Ich bin total entwurzelt. Mein Wertesystem ist kaputt. Das Verhältnis zu meinem Körper ist gestört. Ich habe noch nicht eine einzige Beziehung aufbauen können. Ich bin immer noch allein und doppelt bestraft." Aus den ursprünglichen Berufszielen wurde nichts. "Jetzt kann ich nur eingeschränkt arbeiten", sagt Ute, die Schulden hat - wegen der Therapiekosten. "Ich habe mehrfach die Krankenkasse gewechselt. Jetzt habe ich eine, die einen Teil bezahlt. Aber das reicht nicht. Zum Glück habe ich von der Ahrensburger Opferinitiative auch einen kleinen Teil der Therapie bezahlt bekommen."

Im Kopf hat sie immer noch die Bilder, wie Kohl sich nach Kurstreffen von ihr verabschiedete. "Er konnte nie stillstehen und hat sich bewegt, dass ich dachte: Meine Güte, was ist der hippelig. Und was haben Pastoren für ein großes Schlüsselbund in der Hose. Und schwer geatmet hat er auch. Das ist gefühlte 15 Minuten so gegangen, es kam mir vor eine Ewigkeit", so sagte es Ute dem NDR. Sie erinnert auch weitere Details der Treffen: "Er war immer schon betrunken, wenn ich ankam. Und unruhig. Ich hatte das Gefühl, er ist zu allem fähig. Wenn er mich jetzt erdrückt oder sonst etwas passiert. Und seine Frau war nie da. Erst zehn Jahre später ist das alles bei mir aufgebrochen. Ich bin das Opfer, und trotzdem habe ich Schuldgefühle", sagt Ute.

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Solche Fälle dürften sich nicht wiederholen. Aufklärung und klare Regeln an Schulen seien notwendig. Stattdessen werde verwischt und vernebelt. Als sie mit den Lehrern ihres ehemaligen Gymnasiums habe sprechen wollen, sei sie brüsk zurückgewiesen worden. Ute: "Das hat mich sehr verletzt." Auch das Wort "Verleumdung" sei gefallen.

Der stellvertretende Leiter der Stormarnschule, Eckhard Gaumnitz, erinnert sich an den Vorgang: "Das war eine Anfrage über drei Ecken. Und die Betroffene wollte anonym bleiben. So konnten wir doch nicht reden." Der Begriff Verleumdung habe nicht den Wahrheitsgehalt der Opferaussage in Frage stellen sollen. "Wir sind nicht die strafrechtliche Ermittlungsbehörde und müssen mit solchen Vorwürfen vorsichtig umgehen", sagt Gaumnitz. Eines ist ihm besonders wichtig: "Wir wollen nichts unter den Teppich kehren." Wenn die Frau mit Lehrern reden wolle, werde man ihr sicher zuhören.

"Ich hatte einen Dritten gebeten, sich für mich an die Schule zu wenden", sagt Ute, "aber ich bin jederzeit bereit, das Angebot für ein Gespräch zu wiederholen. Ich will die Schule ja nicht fertigmachen. Sie liegt mir am Herzen. Ich will nur helfen, dass sich so etwas nicht wiederholt. Das geht nur, wenn Schule, Kirche und Ministerium das Problem anerkennen, Verantwortung übernehmen und alle hinschauen."

Missbrauchsfälle in der Ahrensburger Kirchengemeinde

In den 70er- und 80er-Jahren missbraucht der Ahrensburger Pastor Dieter Kohl Jugendliche aus der Kirchengemeinde. Zu den Opfern gehören auch drei seiner fünf Stiefsöhne.

1999 offenbart sich eines der Missbrauchsopfer der damaligen Pröpstin Heide Emse. Die zeigt Kohl nicht an, sondern erwirkt lediglich eine Versetzung nach Neumünster. Er arbeitet dort bis zum Jahr 2000 als Gefängnisseelsorger. Noch bis zum Jahr 2003 gibt er Religionsunterricht an der Stormarnschule.

Im März 2010 schreibt das Opfer einen Brief an die Bischöfin Maria Jepsen und berichtet von sexuellen Übergriffen des Pastors. Im Mai geht die Kirchenleitung an die Öffentlichkeit. Die Taten sind zu dem Zeitpunkt strafrechtlich verjährt.

Im Juli des Jahres tritt Jepsen wegen des Skandals zurück.