Pastorin kritisiert in Ahrensburg Verhalten der Kirchenführung im Missbrauchsskandal - und bekommt Applaus in der Schlosskirche

Ahrensburg. "Für Ahrensburger Missbrauch-Überlebende ist heute kein Tag für Buße. Ihr habt ein Leben lang gelitten, habt euch geschämt für was ihr euch nicht zu schämen braucht. Es ist ein Buß- und Bettag für die Kirche". Pastorin Susanne Jensen fand beim Gottesdienst in der voll besetzten Ahrensburger Schlosskirche deutliche Worte für die Opfer des Missbrauchsskandals in der Gemeinde.

"Das Thema sexueller Missbrauch berührt uns alle, und ich möchte Sie einladen, innezuhalten. Wir sollen die Vergangenheit ansehen und nicht verdrängen, erst dadurch werden Schritte in die Zukunft möglich", sagte Pastorin Anja Botta, die den Gottesdienst leitete. Darum ging die Kollekte an diesem Abend auch an den Verein "Missbrauch in Ahrensburg", dessen Ziel die vollständige Aufklärung der Geschehnisse ist. Pastor Dieter Kohl hatte nach dem Geständnis, in den 70er- und 80er-Jahren Kinder und Jugendliche missbraucht zu haben, seine Entlassung aus dem Dienst beantragt. Vorwürfe gibt es zudem gegen Pastor Friedrich H.

Vereinsmitglieder fordern vom Bischof Ende des Redeverbots für Pastor Haak

Noch sei die Beschäftigung mit der Vergangenheit nicht abgeschlossen, die genauen Umstände seien weiter unklar. "Ihr wartet schon so lange, habt schon so lange um Hilfe gerufen", sagte Pastorin Jensen, die selbst jahrelang von ihrem Vater missbraucht wurde. Die Kerze, die sie beim Ahrensburger Buß- und Bettagsgottesdienst vor einem Jahr mit nach Hause genommen habe, bleibe unangezündet. "Denn noch ist kein Licht, keine Aufklärung. Immer noch sind keine Verantwortlichen bekannt", sagte Jensen.

In Leitungspositionen werde geschwiegen. "Die ,Titanic' ist gegen den Eisberg gefahren wegen fataler Fehleinschätzung auf der Kommandobrücke. Ich schaue genau auf die Kommandobrücke in Kiel, da muss es Verantwortung und Mitentscheider gegeben haben", sagte Jensen.

Vor der Kirchentür protestierten die Ahrensburger Wolfgang Meißner und Wiebke Ehlert, beide 63, mit einem Plakat gegen das Schweigen der Kirchenvertreter. Meißner: "Bischof Ulrich sagte, die Wahrheit brauche offenen Raum. Doch da gibt es eine Diskrepanz zur Realität, in der Pastor Haak klagen muss, um reden zu dürfen." Der Ahrensburger Pastor Helgo Matthias Haak streitet mit dem Kirchenamt darüber, ob er öffentlich sagen darf, was er über den Fall weiß. "Ich bemühe mich seit eineinhalb Jahren darum, dass ich reden darf. Es muss generell geklärt werden, was ein Pastor sagen darf. Ich kann aber jetzt schon sagen, dass ich zur Wahrheitsfindung beitragen kann", sagte Haak nach dem Gottesdienst.

Pastorin Jensen erklärte in ihrer Predigt, auch sie sei eingeschüchtert worden. Vor einem Jahr habe ein Kirchenvertreter zu ihr gesagt, sie dürfe sich nicht öffentlich zu Missbrauch äußern, bevor sie ihrem Vater nicht vergeben habe. "Doch ich habe mich nicht einschüchtern lassen von der bevormundenden und belastenden Äußerung", sagte Jensen.

Diesmal habe ein Kirchenmann ihr geschrieben, es sei Zeit für Deeskalation. "Aber es kann doch keinen Neubeginn mit Leichen im Keller geben und kein Teppich über die lebenslangen Leiden der Menschen gelegt werden", sagte Jensen. Verantwortliche müssten endlich benannt werden. "Wir lassen uns nicht unter den Teppich kehren!", rief die Pastorin den Gottesdienstteilnehmern zu. Sie forderte die Ahrensburger zum Kämpfen auf: "Hinter den Missbrauch-Überlebenden liegt eine tiefe Nacht. Ich möchte sie ermutigen. Mut und nicht Demut, Mut zum Leben und Mut zum Aufstehen."

Der Kirche wirft sie vor, eigene Interessen vor die der Opfer zu stellen. "Das Leid der Menschen wurde abgewogen und als zu leicht befunden gegenüber dem äußeren Erscheinungsbild der Kirche. Das ist unmoralisch und unevangelisch", sagte Jensen. Eindringlich fordert sie die Entscheider zum Handeln auf. "Die Kirche steht und fällt damit, wie sie mit dem Skandal umgeht. Sie lebt von Menschen, die Verantwortung übernehmen", sagte Jensen.

Tosender Applaus begleitete die sichtlich aufgewühlte Pastorin, die sich nach ihrer flammenden Rede erst einmal zurückziehen musste. "Die Predigt war grandios, schneidend und eindrucksvoll. Sie hat deutlich ihre Meinung gesagt", sagte Sigrid Steinbeg, 74. Sie blieb mit einem Großteil der Gottesdienstbesucher noch zum anschließenden Austausch in der Kirche.

"Wir sind eine veränderte Gemeinde", sagte Pastor Detlev Paschen, Vorsitzender des Kirchenvorstands, zu Beginn der Diskussionsrunde. "Es gibt viele unbeantwortete Fragen. Doch wir stehen an der Seite von Missbrauch-Überlebenden, wir versuchen zu verstehen, was passiert ist."

Eine der häufigsten Fragen: Hätten es nicht alle wissen müssen?

Auch wenn in der Vergangenheit noch vieles aufzudecken sei, habe die evangelische Kirche in Ahrensburg doch einiges für die Zukunft getan. "Wir sind vor allem in präventiven Maßnahmen weitergekommen, verlangen ein erweitertes polizeiliches Führungszeugnis. 30 Jugendgruppenleiter wurden intensiv zu dem Thema geschult, und Selbstverpflichtungserklärungen wurden unterzeichnet", sagte Paschen.

Die sogenannte Krisen-Arbeitsgemeinschaft im Kirchenvorstand hatte für den Abend Plakate vorbereitet, auf denen die häufigsten Anfragen der Bürger zu lesen waren. Ganz oben auf der Liste: "Wenn es einige gewusst haben, hätten es dann alle wissen müssen oder können?" Darüber diskutierten die Gäste genauso wie über die Aussagen "Endlich kann ich darüber sprechen" und "Es passiert ja doch nichts". In einem waren sich alle einig: Auf die Forderung "Es muss doch endlich mal Schluss sein" lautete die Antwort: Für die Opfer gibt es keinen Schluss.