Opferinitiative aus Ahrensburg erneuert Kritik an der Kirche bei Aufarbeitung des Missbrauchsskandals. Richtlinien werden gefordert.

Ahrensburg. Nur knapp 50 Besucher sind gekommen. Sie wirken verloren in der großen Stallhalle des Ahrensburger Marstalls. So viele freie Plätze. Der Verein Missbrauch in Ahrensburg hat zu einer Informations- und Diskussionsveranstaltung eingeladen und offensichtlich mit einem größeren Andrang gerechnet. Der Vorsitzende Anselm Kohn scheint unbeeindruckt. Mehr noch: vorbereitet.

"Ich sehe die leeren Stühle. Und ich sehe die Menschen vor mir, die hier sitzen könnten. Aber ich weiß, dass sie nie kommen würden", sagt Kohn. Traurig sei er deswegen nicht. Wütend wirkt er auch nicht. Er sieht einfach der Realität ins Auge: Die Täter entziehen sich. Die Opfer sind verletzt. Aber was ist mit den Menschen aus dem Umfeld?

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Warum sind nicht mehr gekommen, um Fragen zu stellen? Oder um zu erzählen, was sie mitbekommen haben von den Geschehnissen damals im Kirchsaal Hagen? Von sexuellen Übergriffen von Pastor Dieter Kohl? Von möglichen Verfehlungen von Pastor H., gegen den ein Disziplinarverfahren läuft? Die traurige Erkenntnis des Abends: Viele haben Angst. Immer noch. Selbst wer kein Täter und kein Opfer ist, hat Angst.

"Bitte nicht meinen Namen nennen. Meine Tochter war damals im Kirchsaal Hagen", sagt eine ältere Frau. "Ich möchte meinen Namen nicht nennen", sagt auch ein junger Mann. Er arbeitet als Selbstständiger für eine Kirchengemeinde - in Hamburg. Er fürchtet, für seine Kritik zur Rechenschaft gezogen zu werden, von seinem Arbeitgeber, der Kirche. Dabei treibt ihn die Sorge sichtbar um. "Ich bin Vater von zwei Kindern. Sie gehen in den Konfirmandenunterricht. Ich möchte wissen, wo ist die Grenze. Das ist total wichtig. Was ist noch Zuwendung, und wo fängt Missbrauch an? Es muss Richtlinien geben", sprudelt es aus ihm heraus.

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Anselm Kohn verweist auf eine Broschüre. Sie liegt am Eingang auf einem großen Info-Tisch. "Darf ich mit meinem Kind in die Badewanne?" heißt das Heft, das der Verein "Dunkelziffer" herausgegeben hat. Seit 1993 setzt er sich gegen Kindesmissbrauch ein. Die wichtigste Dunkelziffer: Jedes Jahr werden nach Schätzung von Experten in Deutschland bis zu 200 000 Kinder im Alter bis 14 Jahren Opfer sexueller Gewalt. Eine erschütternde Zahl. Eine hilfreiche Broschüre. Eine wirkliche Antwort auf die Frage des besorgten Vaters ist das nicht.

Viele Fragen sind noch ungeklärt. 240 waren es bei der Info-Veranstaltung der Opferinitiative und der Kirchengemeinde im Juli 2010. Kohn: "Bis heute sind sie von der Kirchenleitung noch nicht beantwortet. Und Bischof Ulrich war auch noch nicht hier. Das ist verständlich, aber enttäuschend."

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Wenn Ulrich schon nicht da ist, soll er wenigstens an seinen eigenen Worten gemessen werden. Auf ein Bettlaken hat der Verein einen Ausspruch des Bischofs vom 4. November 2011 geschrieben: "Die Wahrheit braucht offenen Raum. Und die Vielfalt der Stimmen."

Von der Kirchenleitung ist heute niemand gekommen. Und der, der da ist, schweigt: Mathias Lenz. "Er ist Referent der Kirchenleitung und nur als stiller Späher da", sagt Kohn, der während der dreistündigen Veranstaltung ruhig, fast sachlich bleibt. Eine erstaunliche Leistung. Kohn lebte mit seiner Mutter, Geschwistern und dem Stiefvater Dieter Kohl von Mitte bis Ende der 80er-Jahre im Pastorat. In jener Zeit habe der Geistliche auch ihn bedrängt.

Kohn will die Besucher ermutigen, sich mit ihren Fragen an die Mitglieder der Kirchenleitung zu wenden. Doch die Liste der Namen erscheint nicht. Ein technischer Defekt. Die Leinwand bleibt dunkel. "Es gibt eben keine Verantwortlichen", sagt Anselm Kohn mit einem Anflug bitteren Humors.

"Ich bin von Pastor Kohl konfirmiert worden. Es hätte auch mich treffen können", meldet sich nun Nina Ehlert, 33, aufgewühlt zu Wort. "Warum ist das verantwortliche Personal in der Kirche nicht schon längst ausgetauscht worden?", fragt die Mutter von zwei Kindern. "Dann könnte ich vielleicht wieder Vertrauen fassen. Aber so? Ich schicke meine Kinder nicht in die Kinderkirche. Wir sind ausgetreten."

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Der vom Kirchenkreis Hamburg-Ost eingesetzte Präventionsbeauftragte Rainer Kluck ist gekommen, um sich den Fragen zu stellen. "Wir sind weiter als in den 80er-Jahren. Es ist schon viel passiert. Ich arbeite mit 15 Kollegen zusammen. Wir versuchen, die Lücken zu schließen" sagt er.

Auf sein Statement hagelt es Kritik. "Als wenn, Bingo, mit einem Mal alles in Ordnung wäre", ruft der Vater dazwischen, der sich um seine beiden Söhne sorgt. "In der Kirche gibt es keinen geschützten Raum." Zwei Reihen hinter ihm ruft ein anderer: "Solche Dinge passieren auch anderswo."

"Wir müssen zunächst die Ursachen klären, die Strukturen. Wir müssen wissen, warum das alles so passieren konnte", sagt Wolfgang Meichßner vom Vorstand der Opferinitiative, der bei Wind und Wetter draußen steht, bei den Mahnwachen gegen das Vergessen. "Bisher hat sich noch kein Pastor sehen lassen. Warum nicht?", fragt der Ahrensburger.

240 Fragen sind noch immer nicht beantwortet worden. Heute sind neue dazugekommen. "Wir machen weiter", heißt die Konsequenz für Anselm Kohn, "auch mit den Mahnwachen." Die nächste ist am 6. Februar ab 19 Uhr vor dem Kirchsaal Hagen. Unterstützer können auch Mitglied im neuen Förderkreis des Vereins Missbrauch in Ahrensburg werden. Auskunft gibt Anselm Kohn (Telefon 0172/999 65 35). Wer Fragen hat oder Entschädigung fordert, kann sich auch an den Präventionsbeauftragten Rainer Kluck wenden (Telefon 0151/195 198 28, Rockenhof 1, 22359 Hamburg).