Michael Göring hat einen der ersten Romane geschrieben, in denen sexuelle Gewalt in der katholischen Kirche eine zentrale Rolle spielt.

Es begann mit einem zaghaften, aber mutigen Geständnis. Als Erster hatte der Rektor des Berliner Canisius-Kollegs, der Jesuiten-Pater Klaus Mertes, im Januar 2010 von Missbrauchsfällen berichtet, die einige Jahre zuvor an seiner katholischen Schule vorgefallen waren. Es folgte die bittere Erkenntnis: Das sind keine Einzelfälle. Seitdem ist die Kirche erschüttert. Mertes fürchtet, sie könne zerbrechen.

Das meint auch Michael Göring, 55, Chef der Hamburger "Zeit"-Stiftung. Die ersten 25 Jahre seines Lebens war er katholisch. Dann wechselte er zum evangelischen Glauben. Doch die Kirche Roms lässt ihn nicht los. Er wähnt sie in einer Krise, die weit über die Missbrauchsfälle hinausgeht. "Der Kirche fehlen die klugen Köpfe der jungen Generation", sagt er. 500 Jahre nach Luther müsse sich die katholische Kirche nun "selbst reformieren". Er habe gehofft, dass Papst Benedikt XVI. ein Erneuerungs-Konzil einberufe. Doch die Kurie sei "zu träge, zu schwerfällig".

Was alles schiefläuft in der Kirche, das ist eines der zentralen Themen seines Romans "Der Seiltänzer". Ein Buch über den Missbrauch - und ein Buch über die Freundschaft zweier Jungen, die in der Provinz Ostwestfalens aufwachsen und sich ein Leben lang begleiten. Ein Buch über eine verlorene Generation der 60er- und 70er-Jahre.

Das Thema Missbrauch

Für Glaubensfeste sind die Erschütterungen eine Bewährungsprobe. Für andere, die sich innerlich schon von der Amtskirche entfernt hatten, ist das Thema Missbrauch der willkommene Anlass auszutreten. Mitglieder laufen zu Tausenden davon. Erschüttert von der Vielzahl der Missbrauchsfälle oder darüber, dass Bischöfe Straftaten Jahrzehnte systematisch vertuscht haben und Täter - manchmal entgegen gerichtlichen Auflagen - wieder mit Pfarraufgaben und erneut mit der Seelsorge Jugendlicher beauftragten. Und führe uns nicht in Versuchung? Oft ging es den Kirchenoberen mehr darum, nichts in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen.

+++ Fast 40 Prozent mehr Austritte aus der katholischen Kirche +++

Die Kehrseite der Geheimniskrämerei: Seit die erschreckenden Fakten offenliegen, ist das Vertrauen erschüttert. Und das ist nicht nur ein Problem der Katholiken. Auch Hamburgs evangelische Bischöfin Maria Jepsen trat vor einem Jahr zurück, weil sie den Vorwurf, nicht konsequent genug Missbrauchs-Verdachtsfälle verfolgt zu haben, nie ganz entkräften konnte. Vieles liegt im Dunkeln. Was ist wirklich geschehen? War es noch schlimmer? Oder wird schamlos übertrieben?

Misstrauen ist gesät. Sogar standhaft Gläubige fragen besorgt: "Hat wenigstens unser Pfarrer eine weiße Weste?" Sie spüren: Die Kirche hat ihre Unschuld verloren. Begegnungen zwischen Priestern und Jugendlichen, die vor der Krise als harmlos galten - sich nur mal "in den Arm zu nehmen" -, können heute einen schlimmen Verdacht auslösen. Auch zu Unrecht. Im Abendblatt erläutert der Autor die wichtigsten Passagen seines Werks zu den Themen Missbrauch, Liebe und Sexualität, Glauben und Neubeginn.

Aus dem Buch "Der Seiltänzer":

Der katholische Pfarrer Andreas zu seinem Freund Thomas:

Plötzlich meine ich überall Misstrauen zu spüren. (...) Ich sehe die Sorgenfalten bei den Müttern. Ich bilde mir ein, sie fragen sich die ganze Zeit: Ist das auch so einer? (...) Ich vermeide jeden körperlichen Kontakt mit meinen Messdienern, Thomas. Du kannst dir das nicht vorstellen, ich gestatte mir nicht einmal mehr ein Rückenklopfen. (...) Es ist verrückt."

Autor Michael Göring:

"Bei Andreas, der Hauptfigur meines Romans, bleiben Zweifel. Was ist wirklich vorgefallen? Das habe ich bewusst so angelegt. In einer leidenschaftlichen Predigt fordert er zum Beispiel, auch wer Homosexualität praktiziere, sollte am Altar stehen dürfen. Das macht ihn angreifbar. Aber das ist für mich das Spannende an Romanfiguren, dass sie nicht eindeutig zuzuordnen sind."

Das Thema Liebe und Sexualität

Die katholische Kirche gilt vielen als prüde. Priester müssen ehelos leben, auf jede Sexualität und eine Partnerschaft verzichten. Katholische Gläubige leben in einem Widerspruch: Die meisten praktizieren ohne Gewissensbisse Methoden der Verhütung, obwohl ihre Kirche diese grundsätzlich ablehnt. Als Sensation galt schon das zaghafte Zugeständnis von Papst Benedikt XVI., als er im vergangenen November einen eingeschränkten Gebrauch von Kondomen als erlaubt beschrieb - allerdings nur als Ausnahme, etwa um die Verbreitung von Aids durch homosexuelle Prostituierte zu stoppen.

Aus dem Buch "Der Seiltänzer":

Der ungläubige Thomas ist empört, als sein Freund Andreas ihm 1983 erzählt, dass er ins Priesterseminar eintritt. Thomas, der Literaturwissenschaftler, erregt sich über die damals verbreitete Sexualmoral:

"Aber weißt du auch, dass nach strenger dogmatischer katholischer Auslegung ein homosexueller Mensch an sich als Sünde gilt? Nicht nur der, der diese angeblich abartige Sexualität auslebt, sondern auch der, der sie schlicht in sich verspürt, ohne überhaupt Sex zu praktizieren. Kein Bischof fragt sich in der katholischen Kirche offenbar, warum derselbe Gott dem einen diese und dem anderen jene Sexualität auferlegt ..."

Michael Göring:

"30 Prozent der Priester haben eine Liebesbeziehung, ergab kürzlich eine Studie aus den USA. Es war für mich immer ein Widerspruch, dass die katholische Kirche einerseits die Liebe in Form von Caritas zum wichtigsten Bestandteil ihrer Lehre gemacht hat - andererseits verwehrt sie ihren wichtigsten Personen, nämlich den Priestern, die Liebe auch in körperlicher Form zu einer Partnerin oder einem Partner und in der Zuneigung zu eigenen Kindern zu leben."

Das Thema Glauben

Gibt es einen Gott? Viele stellen sich diese Frage nicht mehr. In Hamburg gehört nur noch knapp die Hälfte aller Bewohner einer christlichen Kirche an. Jeder Zehnte ist Katholik. Von ihnen ist jeder sechste aus dem Ausland zugezogen. Im Erzbistum Hamburg (Hamburg, Schleswig-Holstein, Mecklenburg ohne Vorpommern) leben knapp 390 000 Katholiken. Seit 2006 ist die jährliche Zahl der Kirchenaustritte von 2500 auf über 5000 gestiegen.

Aus dem Buch "Der Seiltänzer":

Dialog zwischen Andreas, dem Priester, und Thomas, seinem Freund:

"Gott verspricht uns eine Bedeutung nach unserem Tod, ein Weiterleben, etwas, das über unsere leibliche Existenz hinausweist." "Damit kann ich gar nichts anfangen, Andreas. Ich denke oft, der Glaube ist nur eine Erfindung des Menschen. (...) Woran können wir denn erkennen, dass es diesen Gott überhaupt gibt?" "Das ist eine so alte Frage, dass man sie biblisch nennen kann, ich stelle sie mir immer wieder. Ich glaube, er zeigt sich darin, dass er uns die Fähigkeit gegeben hat, über uns nachzudenken. (...) Wir haben die Gabe der Selbstreflexion - das ist für mich der göttliche Funke, der uns von allen anderen Lebewesen unterscheidet."

Michael Göring:

"Kirche könnte in unserer Gesellschaft eine ganz wichtige Rolle in einer Zeit spielen, die immer mehr an verbindlichen Institutionen und Werten verliert. Ich sehe darin ein großes Problem, sogar eine Gefahr, wenn diese Kirche immer weniger junge Menschen anziehen und begeistern kann."

Das Thema Neubeginn

Midlife-Krise, zweiter Frühling - Umschreibungen für eine Lebensphase zwischen 40 und 50, in der sich viele fragen: "Ist das alles gewesen? Erwarte ich etwas ganz anderes? Soll ich noch mal von vorn anfangen?" Bücherregale könnte man füllen mit Titeln wie "Neuanfang in der Lebensmitte". Eine Aufbruchstimmung zieht sich durchs "Mittelalter". So hat sich seit den 1970er-Jahren die Zahl der Scheidungen nach der Silberhochzeit mehr als verdoppelt.

Aus dem Buch "Der Seiltänzer":

Die Selbstzweifel von Andreas:

"Und auf was konnte er bei einem Neustart mit 50 Jahren noch bauen? Zuerst mal auf Gottes Hilfe, auf sein Selbstvertrauen, seine innere Stimme, die ihn in so vielen Situationen bisher ein so verlässlicher Wegweiser gewesen war. (...) Plötzlich war es ihm, als würde das Sicherheitsnetz reißen, das seit 30 Jahren unter ihm aufgespannt war. Hatte er bei seiner Entscheidung damals geahnt, wie sehr er bei seinem Beruf auf dem Seil tanzen würde?"

Michael Göring:

"Der Titel 'Seiltänzer' ist mit Bedacht gewählt. Der Seiltänzer tanzt auf einem Lebensseil, darunter ist ein Netz gespannt, das mehr oder weniger dicht ist. Er kann aber abstürzen. August Mackes Bild ,Seiltänzer' hing lange in meinem Büro. Für mich ein Symbol und ein Lebensgefühl, das nicht auf unsere Generation beschränkt ist, sondern alle angeht. Eine Kernfrage stelle ich mir: Was gibt uns Sicherheit im Leben? Da gibt es den Glauben, den man sich immer neu erkämpfen muss. Dann Familie, Ehe, Kinder, Freundschaft. Sie geben Sicherheit und kommen nur zustande, weil man anderen Sicherheit gibt. Das will ich auch in der von mir beschriebenen Freundschaft zeigen."

Michael Görings erster Roman "Der Seiltänzer" ist ab 14. September im Buchhandel (Hoffmann und Campe, 320 S., 19,99 Euro)