Susanne Jensen wurde als Kind jahrelang von ihrem Vater missbraucht. Jetzt arbeitet sie die schrecklichen Erlebnisse als Pastorin auf.

Der dunkelste Punkt der Hölle liegt in Nürnberg und ist gelb verputzt. Vor der Fassade ist auch heute noch Idylle, Rasen und Sandkiste, hinter der Fassade ist Susanne Jensen erst zwölf Jahre alt und wird vom Vater missbraucht. Seit zehn Jahren schon, nicht alle davon in diesem Haus, aber dort ging es Susanne am schlechtesten. "Ich wurde durchgestrichen", sagt sie heute. Wer wissen will, was genau passiert ist, bekommt als Antwort erzählt, was die Folgen ihrer Erlebnisse sind. "Ich mag das nicht beschreiben, jeder hat genug Fantasie", sagt sie. Dann also die Folgen, zumindest ein paar:

Sie kann sich kaum die Zähne putzen, weil sie nichts in den Mund nehmen will. 15 Jahre lang konnte sie nur auf dem Boden schlafen, nicht im Bett, Bett ist Tatort. Sie brannte sich mit Zigarillos Löcher in die Haut, heute lässt sie sich fast den ganzen Körper tätowieren, um sich wieder akzeptieren zu können und sich wieder schön zu finden, nach allem, was ihrer Haut passiert ist. Sie ist trockene Alkoholikerin. Sie hasst alles, was sie zur Frau macht. Und im Sommer 2008 stellte sie den Bartscherer zum ersten Mal auf null und rasierte sich den Kopf. Etwa 50 Zentimeter Haar, an dem niemand mehr ziehen kann.

Am heutigen Buß- und Bettag wird sie beim Gottesdienst ab 19 Uhr in der Ahrensburger Schlosskirche sprechen, anlässlich des vor mehr als 18 Monaten bekannt gewordenen Missbrauchsskandals, der zum Rücktritt der damaligen Bischöfin Maria Jepsen führte und der die ganze Nordelbische Kirche bis heute schwer belastet. Bis heute sind die kircheninternen Ermittlungen nicht abgeschlossen. "Frau Jensen hat einen Weg gefunden, mit ihren Erfahrungen konstruktiv umzugehen. Wir hoffen, dass sie anderen Hoffnung geben kann", sagt Pastor Holger Weißmann vom Ahrensburger Kirchenvorstand. Susanne Jensen wird sprechen, denn sie ist inzwischen Pastorin. Das denkt man nicht, wenn man sie sieht, wie sie in ihrem Haus im schleswig-holsteinischen Owschlag Kaffee trinkt und ein Zigarillo raucht - eine 48-Jährige geschmückt mit Kreuz und Hundehalsband. Draußen liegt Schleswig-Holstein im Nebel, drinnen ist es gemütlich. Katze Blacky liegt auf dem Boden und schnarcht. Der Name der Katze ist geändert, den muss nicht jeder wissen, sagt Jensen. Am Tisch essen, mit Messer, Gabel, Stoffserviette, mag sie nicht. Noch so etwas, was von früher geblieben ist. Sie isst an dem Tisch, auf dem überall Farbtuben stehen, weil sie hier auch ihre Bilder malt. "Früher gab es keine Farben, für mich war als Kind immer November", sagt sie.

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Das Auffälligste an ihr sei ihr Dialekt, schreibt Susanne Jensen auf ihrer Internetseite. "Mein Vater ist gebürtiger Münchner und meine Mutter eine Westfälin." Vielleicht ist ihr Äußeres inzwischen doch auffälliger. "Hilfe, ein Monster", habe ein Mädchen aus einer Konfirmandengruppe gesagt, als die Mutter es nach der ersten Stunde abholte. Die diplomatischeren Gemeindemitglieder sagen, ihr Äußeres sei "gewöhnungsbedürftig, aber es kommt auf die inneren Werte an". Dass sie wirklich Pastorin ist, tauft, konfirmiert und beerdigt, glaubt man ihr dann, wenn sie spricht, fest und laut und so, wie eben von Kanzeln gesprochen wird, auch wenn sie gerade nur im Wohnzimmer redet.

Von einer Kanzel in Berlin-Kreuzberg predigt sie am 4. Juli vergangenen Jahres zum ersten Mal offen über ihre Kindheit. "Darf und kann ich sprechen über mein persönliches Kinderhöllenlabyrinth - über den schweren Missbrauch, den ich über Jahre in meiner Kindheit erlebt habe, und dessen Folgen?", fragt sie und sitzt im Anschluss 15 Minuten weinend im Gottesdienst. Als sie vom Missbrauchsskandal in Ahrensburg hörte, habe sie sich verpflichtet gefühlt zu helfen. "Die Starken sprechen für die, die es nicht können", sagt sie. Ihr ist wichtig, das Vertrauen in die Kirche zurückzugewinnen, denn auch wenn in der Institution Kirche Schlimmes passiere, sie glaube an den Glauben. "Viele haben sich von der Kirche abgewandt, auch in Ahrensburg. Aber es gibt eine Theologie, mit der auch Missbrauchsüberlebende leben können." Verzeihen etwa, das sei ein langer Weg, das kenne sie selbst. Sie will Einblicke geben in die Gefühle der Opfer, warum sie ein Leben lang leiden. Auch am Buß- und Bettag des vergangenen Jahres predigt sie in Ahrensburg. Heute soll ihre Predigt "es noch direkter sagen". Und sie hat Angst. "Ich weiß nicht, was danach kommt", sagt sie. "Ich habe Angst, wieder durchgestrichen zu werden, denn ich lege den Finger in die Wunde." Sie ecke an, auch intern. "Manche sagen: So kann man nicht Pastor sein." Die Leitung der Nordelbischen Kirche in Kiel will Frau Jensens Geschichte auf Anfrage dieser Zeitung "inhaltlich nicht kommentieren", so der Vorsitzende, Norbert Radzanowski. Mut geben Susanne Jensen Kollegen, die sie unterstützen, "das war früher anders". Und Menschen wie Anselm Kohn, 1. Vorsitzender des Vereins Missbrauch in Ahrensburg, und dessen Bruder Sebastian Isert. Beide sind Opfer ihres Stiefvaters, des ehemaligen Ahrensburger Pastors, der im Dezember 2010 öffentlich - im Hamburger Abendblatt - gestanden hat, Kinder im Gemeindebezirk Kirchsaal Hagen in den 70er- und 80er-Jahren sexuell missbraucht zu haben.

Dass Susanne Jensen in Süddeutschland von ihrem eigenen Vater, einem Beamten der Bundesbahn, missbraucht wird, wird ihr erst klar, als ein Fremder sie im Park vergewaltigt. Damals war sie zwölf. "Ich lag dort und sah in den Himmel und dachte: ach so", sagt sie. Das Aufstehen sei das schwerste Aufstehen ihres Lebens gewesen. In dem Jahr versucht sie dreimal, sich umzubringen. Und irgendwann wehrt sie sich. "Ich habe gefressen wie wahnsinnig, bin sehr dick geworden und habe mich nicht mehr gewaschen", sagt sie. "Und ich hatte Hass in den Augen." Als ihre Cousine von den Übergriffen erfuhr, habe sie gesagt, dass sie immer fand, Susanne sei ein komisches Kind, aber sie habe es auf die vielen Umzüge geschoben, siebenmal woandershin.

Schließlich werden die Übergriffe seltener, der Vater wird krank, hat schwer Diabetes, er wird versetzt, wieder einmal, die Mutter zieht nicht mit, zum ersten Mal. "Sie hat auf ihre Art versucht, mich zu schützen", sagt Jensen. Der Vater kommt nur noch jedes zweite Wochenende nach Hause. Der Vater, der Erich, der auf Fotos in seinem karierten Jackett gar nicht so unsympathisch aussieht, aber was hat man auch erwartet, so einfach zu sehen ist es ja nicht. Das sagt auch ein Nachbar von damals aus dem gelben Haus, den Susanne wiedertrifft, als sie mit einem Team des Fernsehsenders WDR in ihren Heimatort fährt. Er erinnert sich an die ordentliche Beamtenfamilie. "Das Bild war perfekt, wir hatten ja auch selten Gäste", sagt Jensen. Das perfekte Bild, die Fassade, die aufrechterhalten werden kann, weil Jensen ihre Erlebnisse verdrängt.

Später zieht die Familie nach Hamburg, die Tochter beginnt ein Jurastudium, weil der Vater das so will. "Dabei wäre ich gern Künstlerin oder Kriminalkommissarin geworden." Mit 23 Jahren lässt sie sich taufen, dann wechselt sie ihr Studienfach zu Theologie. Zum Glauben hatte sie noch in ihrer Kindheit gefunden. "Ich habe im Religionsunterricht von Jesus gehört, in der schlimmsten Zeit meines Lebens, da war ich zwölf." Susanne Jensen bastelt ein Kreuz und fängt an zu beten. "Das Kreuz hat mir geholfen zu überleben. Denn Gott ist bei uns, wenn wir zertreten werden. Er hat es auch erlebt."

Auch Martin hilft, ein freundlicher Mann mit Vollbart und einer Liebe zu Märklin-Eisenbahnen, ein Mann, der keine braunen Augen hat. Das ist wichtig für Susanne Jensen, denn braune Augen hatte ihr Vater. Jensen hat Martin geheiratet.

Sie lernt ihn im Studium kennen. Martin ist der Kommilitone, dessen Andacht im Gegensatz zu ihrer eigenen vorgelesen wird, "der blöde Martin", denkt sie. Und Susanne ist die, die zu spät in die Vorlesungen kommt, die damals noch blondes Haar hat, einen Haarschnitt wie Prinz Eisenherz, und die ihre Figur unter einem von ihrer Mutter gestrickten weiten Wams versteckt. "Und die immer Mandarinen neben mir aß, nicht, dass ich keine mag, aber nicht in der Vorlesung", sagt Martin. Die beiden verlieben sich, weil sie "ähnlich ticken", wie Martin sagt. Und dann brechen die so gut verdrängten Erinnerungen an die Vergewaltigung im Park wieder hervor. "Ich hatte Martin kennengelernt. Er wollte mich ja nicht als Neutrum", sagt Susanne Jensen. "Ich bin dankbar, dass ich lernen konnte, damit umzugehen", sagt sie. "Mein Mann ist nicht er . Es hat sehr lange gedauert." Martin Jensen sagt, für ihn sei es schwer gewesen, herauszufinden, was seine Frau an früher erinnert und was nicht. "Es ist, als läge man zu dritt im Bett."

Als Susanne Jensen 32 Jahre alt ist, heiraten sie, erst zwei Jahre später zieht sie von ihrer Familie weg, nach Flensburg, in die erste gemeinsame Wohnung mit Martin. "Ich konnte mich nicht von meiner Mami lösen", sagt Jensen, die habe sehr unter ihrem Vater gelitten, er habe sie verbal fertiggemacht.

In Flensburg arbeitet Susanne Jensen als Vikarin. Es folgen verschiedene Anstellungen in Kirchenkreisen in Schleswig-Holstein. Bis Juli 2008 ist sie Pastorin der Kirchengemeinde Osdorf-Felm-Lindhöft in Kirchenkreis Eckernförde, seitdem arbeitet sie als "Pastorin zur besonderen Verwendung" im Kirchenkreis Rendsburg-Eckernförde, übernimmt Vertretungen für Kollegen. "Special Force" nennt sie das.

Ihr Vater habe gesagt: Du wirst keine Pastorin. Die Theologie gefällt ihm nicht. Darüber diskutieren die beiden. Sie reden nicht über das, worüber eigentlich hätte geredet werden müssen. Die Erinnerungen an das, was noch war, kommen erst langsam wieder, als der Vater schon gestorben ist, ein Jahr nachdem sie Martin kennenlernte. Erst vier Jahre später, im Jahr 2000, bricht Susanne Jensen zusammen. Es folgen zwölf Wochen Traumatherapie in einer Klinik. Am ersten Advent 2006 fährt Susanne Jensen an den Strand, zum Bülker Leuchtturm, nach Strande an der Kieler Bucht. Es ist windig und kalt und Susanne Jensen ruft ihre Mutter an und konfrontiert sie mit dem, was ihrer Tochter über Jahre hinweg angetan wurde. "Aber der Erich war doch ein Ehrenmann", sagt ihre Mutter. Dann weint sie.

Für die Beerdigung ihres Vaters habe die Mutter die Trauerrede geschrieben. Auch darin steht, was für ein Ehrenmann Erich war. "Lobhudelei", sagt Susanne Jensen. Und doch: Als er stirbt, fühlt Susanne Jensen "gigantische Trauer". Sie hatte gebetet, dass er sterben solle, weil er so krank ist. "Und als er dann starb, wagte ich nicht zu denken: Endlich ist der Dreckskerl tot." Im Nachhinein wünscht sie sich, er hätte sie um Verzeihung gebeten. Er tat es nicht. Vielleicht, weil er sich nicht eingestehen konnte, dass es falsch war, vermutet Susanne Jensen.

Am heutigen Buß- und Bettag hofft sie, dass viele Missbrauchsüberlebende zu ihrer Predigt kommen. "Mit erhobenem Haupt. Denn nicht wir müssen uns schämen, nicht wir müssen Buße tun, wir leiden unser Leben lang. Jetzt sind andere dran."