Das Landgericht Stade erstickt in einer Flut von Großverfahren. Heute ist der Prozessauftakt zum Fall des mutmaßlichen Kindermörders.

Stade. Die Mitarbeiter am Landgericht Stade haben im Moment kaum Zeit zum Durchatmen. Heute beginnt mit dem Prozess gegen den mutmaßlichen Kindermörder Martin N. das nächste Großverfahren, das dafür sorgt, dass sich alle Augen auf Stade richten. "Es geht pausenlos weiter", sagt Landgerichts-Präsident Carl-Fritz Fitting. Für das Landgericht wird dieser Zustand langsam zur Belastung. Jammern bringt allerdings nichts. "Wir sind in der Pflicht", so Fitting.

Der Behördenleiter spricht mittlerweile bereits vom "ganz normalen Wahnsinn". Seit einigen Jahren gebe es am Stader Landgericht im Bereich der Kapitalverbrechen "eine Massierung, die kriminologisch nicht festzumachen ist", sagt Fitting. An den einzelnen Kammern würden zwei bis drei Großverfahren parallel verhandelt. So beschäftigt sich derzeit die 1. Große Strafkammer unter dem Vorsitz von Richter Rolf Armbrecht beispielsweise mit einem der umfangreichsten Strafverfahren, die jemals am Stader Landgericht verhandelt worden sind.

Im Prozess gegen zwei mutmaßliche Stader Drogenringe sitzen zehn Angeklagte im Sitzungssaal, sie werden von 20 Rechtsanwälten verteidigt. Es wurde bereits an mehr als 60 Sitzungstagen verhandelt. Ein Ende zeichnet sich noch nicht ab. Doch damit noch nicht genug. Vor der 1. Großen Strafkammer wird zurzeit auch ein Verfahren verhandelt, bei dem 110 Taten von gewerbsmäßigen Handel mit Betäubungsmitteln angeklagt sind.

Vor der 2. Großen Strafkammer unter dem Vorsitz von Richter Berend Appelkamp läuft seit Mitte September der Prozess gegen den mutmaßlichen Drahtzieher und einen Helfer des brutalen Raubüberfalls von Oldendorf, bei dem der Unternehmer Gerd H. im vergangenen Dezember ums Leben kam und seine Frau Marianna schwer verletzt wurde. Der heute beginnende Prozess gegen den mutmaßlichen Kindermörder Martin N. wird ebenfalls vor der 2. Großen Strafkammer verhandelt.

Die Vielzahl der Großverfahren ist nach Aussage von Landgerichtspräsident Fitting eine massive Kraftanstrengung für alle Beteiligten. "Dabei müssen alle zusammenarbeiten", sagt Fitting. Am Landgericht müsste immer schnell, viel und sauber gearbeitet werden. Schnell muss es vor allem dann gehen, wenn Verdächtige in Untersuchungshaft sitzen. Zwischen Festnahme und Beginn der Hauptverhandlung dürfen nicht mehr als sechs Monate vergehen, so die Vorgabe.

Nach Ablauf dieser Frist müssten die Inhaftierten freigelassen werden, solange es nicht gute Gründe für deren Verbleib im Gefängnis gibt. Darüber entscheidet in diesen Fällen das Oberlandesgericht in Celle. Sollte dann der einzige Grund sein, das Landgericht Stade könne nicht verhandeln - für die Verantwortlichen des Landgerichts wäre dies ein Horror-Szenario. "Das geht gar nicht", sagt Fitting.

Für den Landgerichts-Präsidenten ist in diesem Fall die Grenze der Belastbarkeit überschritten. Bislang sei es im Bezirk des Stader Landgerichts jedoch noch nicht dazu gekommen, dass Häftlinge entlassen werden mussten, weil die Sechs-Monats-Frist unbegründet überschritten wurde. Allerdings gebe es in Stade seit einigen Jahren "viel mehr Haftsachen", sagt Petra Baars, Pressesprecherin des Landgerichts.

Das stellt die Verantwortlichen vor große Probleme bei der Terminplanung. Schließlich müssen Richter, Verteidiger, Staatsanwaltschaft und Sachverständige Zeit haben. Außerdem muss für ausreichend Sicherheit gesorgt werden. Wenn gemeinsame Termine für die Verhandlungen gefunden wurden, dann geht es als nächstes darum, einen Sitzungssaal zu bekommen. Dass die Räumlichkeiten in dem Gebäude begrenzt sind, liegt auf der Hand. Zurzeit wird jeden Tag am Stader Landgericht verhandelt.

Ein funktionierendes Saalmanagement zu erstellen sei äußerst anspruchsvoll, sagt Präsident Fitting. Doch eine Erleichterung ist bereits in Sicht. Im Jahr 2013 soll die Justizvollzugsanstalt (JVA) in Bremervörde ans Netz gehen. Dann wird die JVA Stade, die eine Außenstelle der JVA Uelzen ist, geschlossen. Dort, wo bislang die Zellen sind, könnten dann neue Sitzungssäle gebaut werden. Zwischen acht und zehn Vorführzellen würden jedoch weiterhin benötigt, sagt Fitting. Schließlich wäre es etwas aufwendig, die Häftlinge in jeder Verhandlungspause von Stade wieder zurück nach Bremervörde zu transportieren.

Werden allerdings am Stader Landgericht weiterhin so viele Verfahren verhandelt, könnte es irgendwann wirklich problematisch werden. Wenn mehr Verfahren reinkommen als abgeschlossen werden, "könnte man sie irgendwann nur noch verwalten", sagt Fitting. Der Landgerichtspräsident müsse derzeit "so umschichten, dass keine Kammer erpressbar ist". Das heißt, die Kammern dürften nicht in einen Deal genötigt werden, beispielsweise weil sich eine Verhandlung über einen langen Zeitraum hinzieht.

"Es gibt die Taktik der Verschleppung", sagt Fitting. Dabei würden Verteidiger das Verfahren bewusst hinauszögern. Der Landgerichts-Präsident betont allerdings, dass Verteidigung eine hohe Berechtigung hätte. Und: "Ein Verteidiger darf stören, das bestimmen die Gesetze." Gleichzeitig verweist er allerdings darauf, dass es gelegentlich Verhalten gebe, das diese Grenzen sprengt. "Das Gericht kann dann nur bedingt Einhalt gebieten", sagt Fitting. Allerdings sei es oft nicht einfach, "die Trennschärfe zwischen engagierter, kompetenter Verteidigung und Obstruktion zu treffen".