Bürger und Angehörige der Opfer wollen beim Prozessbeginn in Stade dem mutmaßlichen Kindermörder Martin N. in die Augen sehen.

Stade. Lange bevor der Prozess gegen den mutmaßlichen Kindermörder Martin N. beginnt, ist die Schlange am Seiteneingang des Stader Landgerichts lang. Medienvertreter und Prozessbeobachter drängen sich vor der Glastür. Kamerateams positionieren sich. Es regnet. Ganz vorne in der Schlange steht Ursel Müller aus Stade.

"Ich bin seit sechs Uhr hier", sagt sie. Müller ist gemeinsam mit der Jorkerin Monika Dietrich und Monika Frankenstein aus Stade zum Landgericht gekommen. Es ist das erste Mal, dass sich die drei Frauen eine Gerichtsverhandlung ansehen. Sie wollen wissen, wie das Urteil gegen den Mann zustande kommt, der bereits die Morde an drei Jungen und zahlreiche Missbrauchsfälle gestanden hat.

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Das Interesse ist groß, die Sicherheitsvorschriften streng. Von 9 Uhr an werden die Besucher ins Gerichtsgebäude gelassen. Jeder wird nach gefährlichen Gegenständen abgetastet. Kameras, Handys und Laptops dürfen ebenfalls nicht mit in den Gerichtssaal. Gegen 9.45 Uhr geht nichts mehr. Alle Plätze im Zuschauerraum sind belegt. Selbst die Zahl der Medienvertreter wurde auf 25 begrenzt. Wer jetzt noch nicht drin ist, bleibt draußen.

Das gilt nicht für Monika Dietrich, Ursel Müller und Monika Frankenstein. Für sie hat sich das frühe Aufstehen gelohnt, sie dürfen auf den Zuschauerbänken hinter der acht mal drei Meter großen Glaswand im Schwurgerichtssaal Platz nehmen. Sie sind dabei, als der 40-jährige Pädagoge hineingeführt wird. Zunächst verdeckt Martin N. sein Gesicht mit einer roten Mappe.

Die drei Frauen aus Stade und Jork sind auch dabei, als die Staatsanwaltschaft die Anklage verliest. Martin N. sitzt derweil nahezu regungslos auf der Anklagebank. Die Haare des als "Maskenmann" bekannt gewordenen Angeklagten sind teilweise ergraut, er trägt jetzt einen dichten Vollbart. 40 Minuten lang hört er der Verlesung der Anklageschrift relativ emotionslos zu. Zeitgleich lauschen auch die drei Frauen aus Jork und Stade der Anklage mit allen grausigen Details. Die Staatsanwaltschaft wirft dem gebürtigen Bremer Pädagogen die Morde an drei Jungen sowie 20 Missbrauchstaten vor. N. soll seine Opfer von 1992 an in Schullandheimen, Zeltlagern und in Bremer Wohnhäusern missbraucht oder sie von dort aus verschleppt haben. Martin N. war Mitte April dieses Jahres in Hamburg festgenommen worden.

Draußen vor der Tür ist es nach dem Beginn der Verhandlung leerer geworden. Medienvertreter, die nicht in den Saal gekommen sind, warten. Übertragungswagen fast aller großen Fernseh- und Nachrichtensender stehen an der Ritterstraße oder auf dem Platz am Sande. Gegen 11 Uhr verlassen die Zuhörer und einige Prozessbeteiligte das Gebäude. Unter ihnen sind auch die drei Frauen aus Stade und Jork.

Sie wirken sichtlich geschafft. "Ich muss das Ganze erst einmal verarbeiten", sagt Monika Dietrich. Die Jorkerin bereue es nicht, dass sie gekommen ist. Sie habe sich oft geärgert, warum Urteile gegen Kinderschänder und Mörder "so gering ausgefallen sind". Deshalb will sie mitverfolgen, wie das Urteil gegen Martin N. entsteht.

Jetzt verlassen auch die Angehörigen der drei ermordeten Jungen das Gerichtsgebäude. Sie treten ebenso wie ein Missbrauchsopfer als Nebenkläger auf. Unter den Angehörigen ist auch Oliver J. Sein Bruder Stefan wurde vor mehr als 19 Jahren, am 31. März 1992, aus einem Internat in Scheeßel, Landkreis Rotenburg/Wümme, entführt.

Anfang Mai 1992 wurde die gefesselte Leiche des 13-jährigen Jungen in den Verdener Dünen gefunden. Oliver J. war zu diesem Zeitpunkt fünf Jahre alt. "Deshalb habe ich an die Tat keine emotionale Erinnerung", sagt J. im Abendblatt-Gespräch. In den vergangenen 19 Jahren habe er zudem eine innere Schutzmauer aufgebaut. "Deshalb habe ich mich in diesem Prozess eher als eine neutrale Person, als ein dritter Beobachter gefühlt", sagt J. Selbst als der Fall seines Bruders angesprochen wurde, wahrte der 24-Jährige neutrale Distanz. Dennoch sei er nach der Verhandlung leicht enttäuscht gewesen.

"Ich hätte gern Blickkontakt zu dem Angeklagten hergestellt", sagt J. Er wollte dem mutmaßlichen Mörder seines Bruders von Angesicht zu Angesicht gegenüber treten. Denn einer der Hauptgründe überhaupt zu diesem Prozess zu kommen war für J. zu sehen, was für Emotionen der Angeklagte zeigt, was dieser für ein Mensch ist. Oliver J. empfindet Abscheu gegenüber den Taten, die der Angeklagte ausgeübt hat. Hass gegenüber dem Menschen Martin N. empfinde er nicht mehr. "Darüber bin ich hinweg", sagt J. Der Prozess gegen Martin N. wird fortgesetzt. Bis zum Dezember sind zehn weitere Verhandlungstage angesetzt.