Am Landgericht läuft der Prozess zum Raubüberfall von Oldendorf. Das Abendblatt sprach mit dem Bruder des ermordeten Opfers.

Drochtersen/Oldendorf. Jens Hennig blickt auf das Foto seines Bruders Gerd. Seine Hände zittern. Es ist das einzige äußerliche Anzeichen dafür, wie sehr es den 40-Jährigen belastet, dass sein Bruder Gerd vor knapp zehn Monaten bei einem brutalen Raubüberfall in Oldendorf ums Leben gekommen ist. Der kräftige Mann wirkt relativ gefasst, er spricht mit fester und klarer Stimme. Trotzdem kann er die schreckliche Tat noch immer nicht fassen. "Wir fragen uns noch heute, warum", sagt der Drochterser, der in Oldendorf aufgewachsen ist und bis vor zehn Jahren selbst dort lebte.

Jens Hennig kann sich noch gut an den Morgen des 12. Dezember vergangenen Jahres erinnern. "Ich war mit meiner Familie in der Küche, wir waren gerade mit dem Frühstück fertig", sagt er. Gemeinsam mit seiner Frau Jasmin und seiner damals siebenjährigen Tochter Annika wollte er an diesem Vormittag einen Weihnachtsbaum holen. "Wir machen das immer zusammen, gehen immer an die gleiche Stelle", sagt Hennig. Eine kleine Familientradition.

Doch dann klingelte das Telefon. Jens Hennig nahm den Hörer ab. Es war der Sohn der Nachbarn seines Bruders Gerd: "Meld dich mal bei der Kriminalpolizei. Es ist etwas Schreckliches passiert." Diese Worte wird Jens Hennig nie vergessen. Sofort rief er bei der Polizei in Stade an. Als er sagte, wer er sei, wurde der 40-Jährige sofort zu Johann Schlichtmann durchgestellt. Schlichtmann ist Polizist und Bürgermeister der Gemeinde Oldendorf. Er kennt die Familie Hennig seit vielen Jahren. "Er hat mir dann erzählt, was passiert ist", sagt Hennig. Am Vorabend waren zwei Männer in das Haus seines Bruders am Koppelring eingedrungen.

Sie prügelten und traten auf den Oldendorfer Zaunbauer und dessen Ehefrau ein, fesselten sie mit Paketklebeband, töteten Dackel "Oskar" mit mehreren Messerstichen und zwangen den Unternehmer und seine Frau, ihnen Bargeld, Bankkarten und Geheimnummern zu geben. Gerd Hennig überlebte den Überfall nicht, seine Frau musste schwer verletzt ins Krankenhaus gebracht werden.

Nachdem Jens Hennig von der grausamen Tat erfahren hatte, informierte der Jüngste von acht Geschwistern seine Familie. Anschließend kümmerte er sich mit einer seiner beiden Schwestern um seine Mutter, die im betreuten Wohnen in Drochtersen lebt. "Es war ein Riesen-Schock für uns alle. Wir haben uns immer gefragt, warum, und gesagt, dass es nicht sein kann", erzählt Hennig.

Einen Tag später besuchte er seine Schwägerin im Krankenhaus. Als er die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, überkam ihn der Schock. "Sie sah schlimm aus", sagt der 40-Jährige. Ihr Gesicht war völlig entstellt, sie würde bei dem Überfall grün und blau geschlagen. Selbst für den gestandenen Fleischermeister war der Anblick zu viel. Er habe kurz das Zimmer verlassen und sich sammeln müssen. Als er ins Zimmer zurückkam, erzählte seine Schwägerin, was an Tatabend in ihrem Haus geschehen ist. "Erst da wussten wir eigentlich genau, was passiert ist", sagt Jens Hennig.

Der 40-Jährige macht eine kurze Pause, nimmt einen Schluck aus seiner Kaffeetasse. Dann erzählt er vom nächsten für ihn schlimmen Ereignis nach dem Tod seines Bruders: Die Beerdigung auf dem Oldendorfer Friedhof am 18. Dezember. "Wir wussten, dass die Polizei da ist und aufpasst. Das hat das Ganze noch verstärkt", sagt Hennig. Seine Gefühle vom Tag der Beerdigung könne er heute kaum noch beschreiben. Zu groß waren Trauer und Schmerz. Umso schwerer war es für den Familienvater, dass seine Tochter nur einen Tag nach der Beerdigung ihren achten Geburtstag feierte.

Aber in diesem Jahr war für die Hennigs ohnehin alles anders. Die Witwe seines Bruders verbrachte den Heiligabend bei ihm und seiner Familie. Doch Weihnachtsstimmung kam nicht auf: "Es wurden viele Tränen vergossen." Zu frisch waren die Erinnerungen, zu groß der Schmerz.

Das alles wurde erneut aufgewühlt, als die Polizei im Februar dieses Jahres, das Haus von Gerd Hennig und seiner Frau wieder freigab. "Das erste Mal in der Wohnung war ein schlimmes Gefühl für mich", sagt Jens Hennig heute. An der Tür klebten noch Reste des Siegels, die Tür zum Büro war noch beschädigt. Ansonsten war die Wohnung fast leer und gesäubert.

"Es war fast so schrecklich wie auf der Beerdigung", sagt Hennig. Noch heute frage er sich jedes Mal, wenn er an dem Haus vorbeifahre oder am Friedhof ist, warum sein Bruder sterben musste - für so wenig. Denn letztlich flüchteten die Täter mit weniger als 12.000 Euro. Die Familie rätselte lange, wer zu solch einer Tat fähig sein könnte.

Im März dieses Jahres nahm die Polizei zwei Verdächtige fest. Der 40-jähige Himmelpfortener Sergej L. soll die Tat geplant haben, der 36-jährige Oldendorfer Familienvater Alexander V. wird der Beihilfe verdächtigt. Die Haupttäter sollen zwei junge Weißrussen sein, die in ihrem Heimatland untergetaucht sind und nicht ausgeliefert werden. Unverständlich, wie Jens Hennig findet. Er kann nicht verstehen, warum es im 21. Jahrhundert nicht möglich ist, die mutmaßlichen Täter nach Deutschland zu holen oder zumindest in Weißrussland zu vernehmen.

Sergej L. und Alexander V. müssen sich hingegen derzeit vor dem Landgericht Stade verantworten. Jens Hennig war zum Prozessauftakt im Gerichtssaal, er hatte sich extra frei genommen. Als er die beiden Angeklagten das erste Mal sah, war er nur wütend. Den gesamten Prozess wolle er wegen der starken Belastung nicht verfolgen.

Zur Urteilsverkündung möchte er jedoch dabei sein. Eine Genugtuung erwarte er nicht. "Eine gerechte Strafe gibt es nicht. Menschen mit einem solchen Gedankengut, dürften eigentlich nie wieder auf die Allgemeinheit losgelassen werden", sagt Hennig. Für ihn aber bleibt weiter die große Frage, warum sein Bruder sterben musste.