Heinrich W. erzählt über schreckliche Erlebnisse im “Haus der toten Seelen“. Aus Angst, vor Scham und wegen der Abhängigkeit von den Erziehern schwiegen die Heimbewohner. Heute können sie darüber sprechen.

Die ausladende Hutkrempe verdeckt sein Gesicht. Mit seinem hochgeklappten Mantelkragen wirkt der Mann geheimnisvoll. Die Spaziergänger, die ihre Hunde an diesem Nachmittag über den platt getretenen Schnee auf den Wegen des parkähnlichen Geländes am Haidkamp ausführen, äugen herüber. Heinrich W. bemerkt die Blicke nicht. Seine Augen wandern von den über die Jahre leicht vergilbten Schwarz-Weiß-Aufnahmen im Fotoalbum, das er mitgebracht hat, hin zur baumgesäumten Allee. "Das ist die gleiche Perspektive", sagt Heinrich W. "Das ist der Weg zum Haus. Tausend Mal bin ich hier entlanggegangen." Er macht ein paar Schritte nach vorn. "Hier war die Treppe zum Eingang." Und dann schreitet er weiter durch den wadentiefen Schnee, bleibt stehen. "Hier ungefähr muss der Kellerknast gewesen sein."

Es ist ein kalter Tag im Februar 2010. Vor 52 Jahren stand Heinrich W. zum ersten Mal an diesem Ort, der damals die Adresse Haidkamp 38 trug. Die Pinneberger machten zu jener Zeit einen großen Bogen um das Areal. Hier lebten rund 60 Heimkinder, mit denen niemand wirklich gern zu tun hatte. Sie wohnten in einem großen Backsteingebäude, das heute vielfach von den damaligen Bewohnern aus der Erinnerung des ersten Eindrucks als "Schloss" beschrieben wird. "Wegen des Turmes", sagt Heinrich W. und lächelt mit seinen grau-blauen Augen durch die randlosen Brillengläser. "Hier habe ich drei Jahre gelebt. Zwanzig Jahre lang habe ich diese Zeit verdrängt. Weitere zwanzig Jahre habe ich gebraucht, um sie aufzuarbeiten. Seit 18 Jahren kann ich damit leben. Jetzt kann ich darüber sprechen." Heinrich W. macht eine Pause, holt Luft und sagt: "Wir Kinder nannten es damals das Haus der toten Seelen."

Anfang 1958 kam Heinrich W. als Halbwaise im Alter von zwölf Jahren auf Anordnung des Pinneberger Jugendamtes in die Kreisjugendheimstätte am Haidkamp. Seinen in den letzten Kriegsmonaten gefallenen Vater hatte der Junge nie kennengelernt, seine Mutter war schwer krank. Die Behörde befürchtete Verwahrlosung, die Mutter kam ins Krankenhaus, der Junge ins Heim. Heinrich W. fühlte sich völlig verlassen, bestraft, verhaftet. Die Mutter starb ein Jahr später. "Der Schock sitzt bis heute", sagt Heinrich W. In den ersten Wochen im Heim sprach der Junge kaum. Tagsüber stand er meist im Tagesraum, starrte aus dem Fenster. "Ich wollte einfach nur nach Hause", erinnert sich Heinrich W. Den Namen des Mannes, der ihn begrüßte, kennt er noch gut: Reinhold S., ein strenger, aber gerechter Mann. Heinrich W. lebte sich am Haidkamp ein.

Es gab einen Erzieher, der sich sehr freundlich um ihn kümmerte. "Peter P. war toll, seine damalige Verlobte und spätere Ehefrau Brigitte auch. Herzensgut waren die beiden." Heinrich W. fand Freunde in seiner Gruppe. Es wäre vielleicht eine schöne Zeit geworden. Aber nach der Übernahme des Heimes durch die Awo im Herbst 1958 zog schließlich Anfang 1961 ein neuer Heimleiter ein.

"Anfang Februar war das", sagt Heinrich W. "Da tauchte er auf. Ein junger Typ, der auch zwei neue Erzieher mitbrachte." Fortan sei die Atmosphäre von einer unberechenbaren Brutalität geprägt gewesen. Es habe Schläge für alles gesetzt. "Ich habe Szenen mit angesehen, von denen ich bis heute träume."

An einen Vorfall erinnert sich Heinrich W. besonders gut. "Drei ältere Jungs, die waren 15 oder 16 Jahre alt, waren vor dem Heimleiter und seinen Gehilfen auf der Flucht. Sie wurden vor meinen Augen durch den Gruppenraum über Bänke und Tische gejagt. Einer der Jungen sprang aus dem Fenster im ersten Stock. Aber da draußen warteten schon die beiden neuen Erzieher, kriegten ihn zu fassen. Wir sahen zu, wie der Heimleiter und seine Männer den Jungen zusammenprügelten."

Auch Heinz B. lebte 1961 im Heim am Haidkamp. An Heinrich W. erinnert er sich nicht, aber an den Heimleiter: "Ein bulliger, äußerst brutaler Mann. Brutale Prügel und Schläge waren an der Tagesordnung. So kam ich einmal zufällig in den Tagesraum und sah, wie ein Erzieher gnadenlos in das blutüberströmte Gesicht eines Jungen schlug. Der Name des Jungen ist mir bis heute im Gedächtnis geblieben. Er hieß Gerhard und kam wie ich aus Flensburg."

Heinrich W. fragt sich heute noch: "Was haben wir damals eigentlich Schlimmes angestellt? Wir haben Zigaretten und Erdbeeren geklaut, Schule geschwänzt, wir sind Mädchen hinterher gestiegen und haben auf dem Klo geraucht. Das waren unsere Verbrechen, für die wir hart bestraft wurden."

Eine besonders gefürchtete Strafe war der "Kellerknast" im Untergeschoss des Hauses, gleich neben der Vorratskammer. Die Fenster waren vergittert. "Zwei richtige Gefängniszellen mit dicken Türen und Riegeln daran", erinnert sich ein dritter ehemaliger Heimjunge. Dunkle Einzelhaft - so beschreibt ein weiterer, heute über 60-jähriger ehemaliger Heimbewohner die Strafe. Er sei mehrere Male im Kellerknast gelandet, weil er als Knirps immer wieder aus dem Heim ausgebüchst sei. "Irgendwann war diese Strafe Alltag, da konnte man sich fast dran gewöhnen."

Niemals gewöhnen konnten sich die Jungen an Erzieher Heinz R., der regelmäßig einen Jungen in sein Zimmer holte, um sie für seine sexuellen Triebe zu missbrauchen. Da lagen sie, die kleinen Körper, zehn oder zwölf Jahre alt, in ihren Betten des Schlafsaales und hofften Nacht für Nacht, dass Heinz R. nicht wieder einen von ihnen weckte und mit in sein Zimmer nahm.

"Es war grausam", sagt Heinrich W. "Wir alle wussten, was mit uns passiert, aber keiner wagte, auch nur ein Wort zu sagen." Die Atmosphäre im Heim sei von Angst geprägt gewesen. Sie habe es den Kindern unmöglich gemacht, über ihre Qualen zu sprechen. "Die Devise lautete doch: Fügen oder ab nach Schleswig." Schleswig war damals unter den Kindern ein gefürchtetes geschlossenes Erziehungsheim. "Alles besser als Schleswig", sagt W. "Wir durften wenigstens ab und an nach Pinneberg, um Sämereien für den Heimgarten zu kaufen, mit den anderen draußen auf dem Bolzplatz toben und den Mädchen hinterher pfeifen."

Erzieher Heinz R. wird heute in der Gemeinde der Ehemaligen vom Haidkamp nur der "Päderast" genannt. "Er beschützte uns vor dem Kellerknast, vor dem prügelnden Heimleiter und vor ein paar brutalen großen Jungs", sagt W. "Eines Nachts haben mich ein paar Große aus dem Bett geholt und drohten, mich zu massakrieren. Heinz R. hat mich vor ihnen gerettet, nahm mich mit in sein Zimmer. Dann hat es mich zum ersten Mal erwischt."

Heinz R. wusste seine Macht über die Jungen auszunutzen. Aus Angst, seine Zuneigung zu verlieren und völlig verlassen zu sein, hätten sich ihm einige Jungen sogar angeboten. "Wir waren diesem Heimsystem ausgeliefert." Jeder habe versucht, seine Seele zu retten. "Unsere Haut war uns egal, und wir dachten, dass wir die Prügel, den Missbrauch abends abwaschen könnten. Unsere Seelen fühlten sich tot an, deshalb erfanden wir diesen Namen: "Das Haus der toten Seelen". Den Heimleiter und den Päderasten nannten wir schließlich "Die Kinderseelenmörder".

"Heute wäre das ein Skandal, zu der Zeit hat das wohl niemanden interessiert."

Heinrich W. ist einer der wenigen Männer, die über die Zeit am Haidkamp sprechen wollen. Ins totale Licht der Öffentlichkeit wagt er sich nicht, bittet darum, seinen Namen zu ändern, lässt nur Fotos zu, auf denen er nicht zu erkennen ist. Die Angst, dass ihn jemand erkennt und sagt, "der war im Heim", verfolgt ihn bis heute. Im Heim haben wir auf die Stirn gestempelt bekommen: "wertlos, verwahrlost, schlecht, besudelt". "Ich bin jahrelang mit gesenktem Haupt durchs Leben gegangen, konnte nie lachen", sagt Heinrich W.

"Ich will keine Rache, keine Entschädigung, ich will mich an keinen runden Tisch setzen. Ich will nur laut darüber sprechen, damit die Pinneberger erfahren, was vor ihrer Haustüre passiert ist und um wen sie einen Bogen hätten schlagen müssen: um die Täter, nicht um die Kinder. Vielleicht gelingt es mir so, den ehemaligen Kindern vom Haidkamp ihre Ehre und ihre Würde zurückzugeben."