Bewohner des Pinneberger Heims erlebten ein Martyrium. Prügel, Schwerstarbeit und sexuellen Missbrauch mussten die Jungen in der Anstalt am Haidkamp erdulden. Die heute erwachsenen Männer haben die Erlebnisse noch immer kaum verarbeitet.

Pinneberg. "Hallo" ruft da einer ins weltweite Netz. "Ich war 1963 bis 1965 im Heim. Mein Erzieher war Herr Sch., danach Heinz R., mit dem ich Scheiß-Erfahrungen gemacht habe." "Für mich war die Zeit im Heim ein absolutes Kindheitstrauma, vom Schläger-Heimleiter, über den brutalen Botte und die schwere Gartenarbeit bis hin zum schwulen Päderasten-Erzieher Heinz R.", antwortet ein anderer. Und ein Dritter meldet sich: "Ich war ab 1966 in dem Stall. Unter H. habe ich auch noch gelitten."

Ein Erfahrungsaustausch, wie man ihn seit der ersten Veröffentlichung über pädagogische Verfehlungen und sexuellen Missbrauch durch Erzieher in deutschen Kinderheimen häufiger liest. Nur: Das Heim, von dem in diesem Dialog auf einer Internetplattform die Rede ist, stand nicht irgendwo in Deutschland und damit weit genug entfernt, dass es die Pinneberger nicht interessieren müsste. Es befand sich in der Kreisstadt. Die Adresse: Haidkamp 38.

Das 1895 errichtete, längst abgerissene Gebäude, es wurde im Volksmund "Kreisirrenanstalt" genannt, war von 1947 bis 1969 ein Kinderheim. Nach dem Krieg wurden in der Kreisjugendheimstätte Kriegswaisen betreut. Ehemalige Heimjungen, heute teils über 60 Jahre alt, empfinden den Anblick des Hauses auf Fotos immer noch als bedrohlich, obwohl sie es aus der Erinnerung des ersten Eindrucks als "schlossähnlich" beschreiben.

Die gemauerten Torpfosten, die damals die Einfahrt zum vier Hektar große Heimgelände mit Haus, Stallungen für Pferde, Schweine, Hühner und Gänse, Schulbaracke, Bolzplatz und riesigem Nutzgarten säumten, stehen heute noch, gleich neben der Ausfahrt des TÜV-Geländes.

1958 übernahm die Arbeiterwohlfahrt Schleswig-Holstein die Kreisjugendheimstätte, die sich im Laufe der Jahre vom Waisenhaus zu einem Heim für sogenannte "schwer erziehbare" Kinder und Jugendliche entwickelte. Vor und nach dem Wechsel der Trägerschaft sollen Grausamkeiten passiert sein, die den Berichten der vergangenen Jahre aus öffentlichen Kinderheimen in nichts nachstehen.

Ein Erzieher soll sich über Jahre hinweg regelmäßig an den Jungen im Heim sexuell vergangen haben. Die jungen Bewohner wurden zu körperlicher Schwerstarbeit verpflichtet und bekamen für aus heutiger Sicht lächerliche Vergehen, zum Beispiel Erdbeeren klauen oder auf dem Klo rauchen, drakonische Strafen: Prügel oder Einzelhaft im - so tauften die Kinder den Raum - "Kellerknast", und das gesamte Gebäude hieß für sie das "Haus der toten Seelen".

Die vielen Veröffentlichungen über die Heimerziehung der 50er- bis 70er-Jahre, die schließlich den Petitionsausschuss des Bundestags beschäftigten und im Herbst 2008 in der Einrichtung eines Runden Tisches mündeten, hat ehemaligen Pinneberger Heimkindern Mut gemacht, über ihre Erlebnisse am Haidkamp und in der Nachfolgeeinrichtung an der Aschhooptwiete offen zu sprechen.

Heinrich W. (Name geändert) war von 1958 bis 1961 Heimkind am Haidkamp. Der heute 64 Jahre alte Mann erzählt als Erster in der Pinneberger Zeitung, was er im Alter von 12 bis 15 Jahren im Awo-Heim erlebte und wie es ihm gelang, mit den Traumatisierungen aus der Pinneberger Heimzeit zu leben.