Für Heinrich W. endete die Heimzeit am 1. April 1961. Er machte eine Lehre, besuchte die Abendschule und absolvierte eine Technikerausbildung zum Maschinenbaukonstrukteur, wurde Vater zweier Kinder.

Seine Heimzeit hatte er völlig verdrängt, litt allerdings unter Wahnvorstellung, Sprachstörungen und Albträumen: Immer wieder stürzten nachts viele rote Kugeln durch ein Gitter auf ihn zu. Heute weiß er: "Das waren die Lichter der Pinneberger Funktürme, die ich als Junge durch die vergitterten Fenster sah."

1982 änderte sich sein Leben. Das Foto eines historischen Gebäudes erinnerte ihn an das Kinderheim im Haidkamp. Heinrich W. erlitt einen Nervenzusammenbruch. Er beschloss, mit Hilfe eines Psychologen die Erinnerungen an seine Heimjahre auszugraben. "Ich nahm Kontakt mit der Jugendpflegerin Beismann auf. Sie hatte mich ins Heim gebracht und half mir Anfang der 80er-Jahre, mich zu erinnern. Sie bestätigte, dass der Verdacht auf Missbrauch durch den Erzieher Heinz R. bekannt gewesen sei. 1982 habe er vom Heimleiter des Heimes Rechenschaft gefordert. Auf die Frage, warum er Heinz R. nicht angezeigt habe, habe der nur geantwortet, Heinz R. sei doch eine arme Sau gewesen. "Die Antwort auf meine Frage, was wir Heimkinder denn waren, blieb er mir schuldig."

Heinrich W. hat auch Heinz R. aufgesucht. "An dem Tag, als Helmut Kohl Bundeskanzler wurde. Da stand ein alter Mann, ein abgemagertes Wrack, das vor Angst schlotterte. Er jammerte, dass er fortgejagt worden sei. Ich habe ihn gefragt, ob er wisse, was er mit uns gemacht hat. 'Ich habe euch alle doch nur geliebt', hat er gesagt." Um die Gespenster zu vertreiben, die ihn in Albträumen quälten, habe er auf Anraten des Psychologen Fotos vom Heim, von Heinz R. und vom Heimleiter an den Spiegel geklemmt, "damit ich sie mir jeden Morgen ansehen musste". Hatte Heinrich W. Pinneberg über zwanzig Jahre gemieden, machte er sich nun häufig auf den Weg in die Stadt, schritt das Heimgelände und die alten Wege ab. Die Bilder verloren Tag für Tag mehr an Schrecken.

"Seit dem Tag, an dem ich als Zwölfjähriger aus der Garstedter Wohnung geholt wurde, war ich auf dem Heimweg", sagt er. "Ich war 50 Jahre auf der Flucht aus dem Heim und wollte nach Hause." Mehr als 20 Mal wechselte er seinen Wohnsitz, seine Ehe scheiterte. Seit drei Jahren ist Heinrich W. Rentner, lebt mit seiner Lebensgefährtin in einem Dorf südlich von Hamburg. "Ich habe zum ersten Mal das Gefühl, angekommen zu sein."