Hundertschaft räumt das besetzte Haus im Senkungsgebiet in der Lüneburger Frommestraße. Anwohner: “Unnötig aggressives Vorgehen“.

Lüneburg. Es ging alles ganz schnell. Quasi aus dem Nichts stürmt eine Hundertschaft Polizisten heran, in Zweierreihen, volle Kampfmontur. Rücksichtslos trampeln sie über die wartenden Jugendlichen, treten auf einen Kopf, Arme, Beine - und bahnen sich so den Weg in das Haus Frommestraße 2. Ein kurzer Spuk: Wenige Minuten nach sieben Uhr früh am heutigen Dienstag ist das von Jugendlichen als Treffpunkt und Kulturzentrum genutzte Gebäude in den Händen der Polizei.

„Unnötig aggressiv“ sei der Einsatz der Polizisten bei der Räumung des Hauses gewesen, sagen die rund 50 Besetzer der Frommestraße 2. Und nicht nur sie: Zahlreiche Nachbarn, auch viele ältere Leute, zeigten sich mit den Jugendlichen solidarisch, bezeichneten das Vorgehen der Polizisten als „unverhältnismäßig“. Rund 100 Lüneburger protestierten gegen die Räumung.

Polizeisprecher Kai Richter zeigte sich dagegen mit dem Verlauf der Räumung zufrieden. Zwar habe es mehrere Strafanzeigen gegeben – sowohl gegen Polizisten als auch gegen Besetzer - , insgesamt jedoch sei die Aktion „ruhig und friedlich“ verlaufen.

Heute endete die Frist der Hausbesetzer in der Frommestraße. Eigentümer Jürgen Sallier hatte für den frühen Morgen bei der Stadtverwaltung den Abriss des offiziell unbewohnten Hauses angezeigt. Nach Angaben des Lüneburger Rechtsamts handelt es sich bei der Hausbesetzung um eine nicht genehmigte, strafrechtlich relevante Versammlung. Zudem könnte der Eigentümer Strafantrag wegen Hausfriedensbruchs stellen.

Das Gebäude mit der Adresse Frommestraße 2 stammt aus den 1950er-Jahren und liegt im Zentrum der Senkungsbewegungen. Noch bis Mitte 2009 ist der Boden dort um rund zwei Zentimeter pro Jahr abgesackt, jetzt sind es zehn Zentimeter. "Wir haben keine genaue Kenntnis darüber, warum und wie sich die Senkungen weiterentwickeln. Bohrungen im vergangenen Jahr haben keine Hohlräume gezeigt", sagt Lüneburgs Stadtbaurätin Heike Gundermann. "Die jungen Leute auf dem Grundstück begeben sich in ein mittelfristig gefährlicher werdendes Gebiet, ohne es zu wissen." Eine Einsturzgefahr bestehe zwar nicht, Teile des Hauses seien aber "nicht mehr standsicher". Es handele sich um eine massive Schiefstellung, das Haus kippe nach hinten weg.

Rechtsamtsleiter Wolfgang Sorger sagt, es handele sich um eine "Gefahr für Leib und Leben". Die Menschen dürfen während des Abrisses nicht gefährdet werden, daher müsse das Haus durch die Polizei geräumt werden.

Das Abbruchkonzept des Eigentümers hat die Stadtverwaltung durch einen externen Statiker prüfen lassen. Laut Kurt Moering, Bereichsleiter Bauaufsicht, ist demnach die Standsicherheit des Nachbarhauses 4 "durch die Erschütterungen des Abbruchs nicht gefährdet". Um den Senkungstrichter rund um Nummer 2, das Tor zur Unterwelt und die Straße nicht weiter zu belasten, wird der Schutt über die Hindenburgstraße abtransportiert.

Die gefährliche Zone der seit zwei Jahren stärker gewordenen Senkungen reicht jedoch bis an die Ecke des bewohnten Hauses Frommestraße 4. Während der Boden unter Hindenburgstraße, Am Springintgut, Bastionstraße und Frommestraße 5 bis 7 ruhig ist, sackte er dort von Dezember 2010 bis Mai 2011 zwischen 3,5 und fünf Zentimeter ab. Eine Folge: Die östliche Fassade des Hauses Nummer 4 hat sich laut Moering in den vergangenen zehn Monaten um zehn Zentimeter geneigt. 2004 hatte der vorherige Eigentümer eine 35 Zentimeter dicke Stahlbetonplatte wurde unter das Haus schieben lassen und sämtliche Geschosse mit Ringstahlankern verstärkt.

"Die Sicherungsmaßnahmen wurden für eine jährliche Senkungsrate von zwei Zentimetern berechnet", sagt Gundermann. "Für die jetzt stattfindende Senkung sind sie nicht ausgelegt." Die Stadt hat den aktuellen Eigentümer Jürgen Sallier daher aufgefordert, einen aktuellen Standsicherheitsnachweis zu liefern.

Gundermann hat außerdem einen externen Prüfstatiker damit beauftragt, ein Konzept für die Zukunft des Hauses zu entwickeln. Während des Abbruchs von Haus 2 werden laut Moering fünf Sensoren installiert, die auf geringste Erschütterungen reagieren und mit den Baggerfahrern gekoppelt sind. Außerdem wurden zusätzliche Gipsmarken gesetzt und Balkone abgesteift.

Anschließend soll der Statiker Bauteile nennen, die für eine genaue Prüfung freigelegt werden müssen. Eine konkrete Einsturzgefahr besteht laut Kurt Moering auch für Haus 4 nicht. Doch was aus dem Gebäude mittelfristig werden wird, ist zurzeit nicht abzusehen. Je nach Aufwand der für die statischen Prüfungen notwendigen Untersuchungen könnten die Mieter sogar dafür ausziehen müssen. Für all diese Maßnahmen - bis auf die Prüfung des Abbruchkonzepts - kommt nach Angaben der Stadtverwaltung der Eigentümer auf.

Gegen den Vorwurf von Besetzern und Mietern unzureichender Informationen durch die Verwaltung wehrt sich Stadtbaurätin Gundermann: Der Eigentümer sei in der Pflicht, zudem müsse die Verwaltung sehr genau zwischen eigentümerbezogenen und öffentlichen Daten unterscheiden. Gundermann: "Jeder, der zu uns kommt, kann Einsicht in unsere Senkungsdaten nehmen." Schlussfolgerungen und weitere Handlungen könne sie allerdings nicht während eines Verfahrens öffentlich kommunizieren, sondern erst, wenn es Erkenntnisse etwa über die freizulegende Bauteile in Haus 4 gebe.

Geplant ist der Abbruch des Gebäudes mit dem Einsatz von Handstemmgeräten und Bohrhämmern. Es wird nicht gesprengt, auch eine Abrissbirne wird nicht eingesetzt. Das Tor wird zum Schutz eingehaust. Ziel ist laut Gundermann "so wenig Gefährdung wie möglich".

Nach dem Abbruch, heißt es, sollen ein Bauzaun sowie ein Wachdienst das Grundstück vor erneuter Besetzung schützen. Türen und Fenster des leer stehenden Gebäudes Bastionstraße 3, das Sallier sanieren will, werden vernagelt. Sämtliche Gebäude an Bastion- und Frommestraße sind denkmalgeschützt. Über den Bauantrag von Jürgen Sallier für die Bastionstraße 1 und 2 wird laut Stadtverwaltung vorerst nicht entschieden.