Lauenburg. Statistisch gesehen werden zwei Kinder pro Schulklasse sexuell missbraucht. Projekt in der Weingartenschule geht das Thema sensibel an.

Sexueller Missbrauch von Kindern – kaum ein Verbrechen wühlt so sehr auf wie dieses. Wer solche Übergriffe erlebt, leidet meist sein ganzes Leben darunter. Früher legte man gern den Mantel des Schweigens darüber. Heute kommen fast täglich schockierende Taten ans Tageslicht. Aber die Dunkelziffer ist immer noch hoch. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass bis zu eine Million Kinder und Jugendliche in Deutschland bereits sexuelle Gewalt durch Erwachsene erfahren mussten oder erfahren. Das sind ein bis zwei Kinder in jeder Schulklasse.

In der Lauenburger Weingartenschule wurde das Thema jetzt kindgerecht aus der Tabuzone geholt. Das Holzwurm-Theater aus Pattensen führte an zwei Tagen das Stück „Sascha – bis hierhin und nicht weiter“ auf. Die erste Vorstellung richtete sich an Eltern und Pädagogen der Schule. Am zweiten Tag nahmen die dritten und vierten Klassen auf den Zuschauerplätzen in der Aula Platz. Organisiert wurde das Projekt vom Förderverein der Schule und der Kreissparkasse Lauenburg.

Sexueller Missbrauch von Kindern: Puppentheater in Weingartenschule klärt auf

So wie die Geschichte beginnt, könnte sie sich in jeder Familie zutragen: Sascha hat Sorgen. Er gehört zu den besten Judokas seiner Trainingsgruppe und könnte sogar den grünen Gürtel machen, aber dafür müsste er noch mehr üben. Doch sein Vater hat keine Zeit, ihn einen weiteren Tag in der Woche zum Training zu fahren. Aber da ist ja noch der Onkel. Der bietet sich an, seinem Neffen zu helfen.

An dieser Stelle des Theaterstücks haben sich die Kinder aus der Weingartenschule mit dem Jungen gefreut. Klar, jetzt würde Sascha bestimmt der beste Judoka seiner Altersklasse werden. Doch die Geschichte verläuft anders als gedacht. Der Onkel bedrängt den Jungen mehr und mehr, will sogar mit ihm duschen. Die Berührungen fühlen sich für Sascha nicht richtig an. Aus dem lebhaften Jungen wird eine stilles, zurückgezogenes Kind.

Puppenspieler Jens Heidtmann vermeidet es, die Kinder zu überfordern

Puppenspieler Jens Heidtmann schafft es, den Kindern Saschas beklemmende Gefühle nahezubringen, ohne sie damit zu überfordern. „Ich will nicht mehr zum Onkel, weil der immer über eine rote Ampel fährt“, erzählt der Junge seinem Vater zuerst. Doch der versteht ihn nicht sofort. Die Botschaft an die Eltern bei der ersten Vorstellung: Signale, die Kinder und Jugendliche aussenden, oder Symptome, die auf den Missbrauch zurückzuführen sein könnten, sind nicht immer eindeutig erkennbar. Kinder und Jugendliche brauchen daher ein aufmerksames Umfeld, das auf Verhaltensauffälligkeiten und -veränderungen sensibel reagiert.

Die Kinder sind auffallend ruhig bei der Ausführung, obwohl sie dicht an dicht in der kleinen Schulaula sitzen. Jens Heidtmann, der auch der Autor des Stücks ist, arbeitet fast ohne Kulissen. Er versteckt sich auch nicht beim Spiel mit den Puppen, sondern bleibt auf der Bühne präsent. Das schafft eine vertrauensvolle Atmosphäre und gibt den jungen Zuschauern die Möglichkeit, in sich hineinzuhorchen.

Schulleiterin Nadine Lenz, Christian Höft (Schulverein), Puppenspieler Jens Heidtmann und Joachim Pehmöller (Kreissparkasse) haben das Projekt für die Weingartenschule organisiert
Schulleiterin Nadine Lenz, Christian Höft (Schulverein), Puppenspieler Jens Heidtmann und Joachim Pehmöller (Kreissparkasse) haben das Projekt für die Weingartenschule organisiert © Elke Richel | Elke Richel

Holzwurm-Theater: Nach dem Stück wird mit den Kindern gesprochen

Wenn das Stück vorbei ist, setzen sich Jens Heidtmann und seine Bühnenpartnerin Petra Erlemann auf Augenhöhe zu den Kindern. Sie wissen aus Erfahrung, dass die Kinder jetzt viel auf dem Herzen haben. Meist kommen sie dann von selbst auf die Botschaften des Stücks: „Meinen Gefühlen kann ich vertrauen“ und „Ich darf mich wehren, wenn meine Grenzen überschritten werden“. Wichtig ist auch: „Ich kann mir Hilfe holen. Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, kann ich es immer wieder versuchen, bis mich einer versteht.“

Was die Sache häufig besonders schwierig macht: 75 Prozent aller Täter kommen aus dem familiären Umfeld des Kindes, so wie auch in Saschas Fall. Das hat der Verein Dunkelziffer aus Hamburg kürzlich veröffentlicht. Bevor die Kinder wieder in ihre Klassen gehen, verteilt Petra Erlemann Kärtchen mit der Telefonnummer 0800/1 11 03 33. Es ist die bundesweit geltende, kostenlose „Nummer gegen Kummer“ für Kinder.

Verein Dunkelziffer: Seit 1993 engagiert gegen sexuellen Kindesmissbrauch

Im Bühnenstück geht die Geschichte natürlich gut aus: Sascha bekommt endlich Hilfe, und der Onkel darf die Familie nicht mehr besuchen. In Wirklichkeit wäre die Sache sicher nicht so einfach. „Sexuelle Gewalt im frühen Kindesalter ist eine traumatische Erfahrung, die das Leben der betroffenen Kinder nachhaltig beeinträchtigen kann“, weiß Vera Falck von Dunkelziffer.

Gegründet wurde der Verein im Jahr 1993 von dem „Stern“-Reporter Klaus Meyer-Andersen. Dieser hatte 1989 für einen Artikel über Kinderpornografie recherchiert und war der Annahme, dass er dafür auf die Philippinen reisen müsse. Ein Irrglaube. Denn bei seiner Recherche stellte er fest, dass es Kinderpornografie auch überall in Deutschland gibt. Von den Ergebnissen seiner Recherche war er so entsetzt, dass er den Verein Dunkelziffer gründete. Zwischen 800 und 1000 Erstanfragen verzeichnet Dunkelziffer pro Jahr. Das können Erzieher sein, die Auffälligkeiten bei einem Kind bemerkt haben, eine Mutter, die glaubt, dass ihrem Kind etwas angetan wurde oder ein Vertrauenslehrer, dem ein Verdacht zugetragen wurde.

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Das Holzwurm-Theater wurde 1984 gegründet. Über 30 Bühnenstücke haben Jens Heidtmann und Petra Erlemann seitdem geschrieben und inszeniert. Mit dem Stück „Sascha – bis hierhin und nicht weiter“ gastieren sie bundesweit in Grundschulen. Es ist für Kinder ab acht Jahren geeignet. Weitere Informationen zum Stück gibt es auf der Seite www.holzwurm-theater.de.