Berlin. Gewalttaten gegen Kinder schockieren immer wieder: Aktuelle Zahlen geben keine Entwarnung – und auch die Dunkelziffer dürfte hoch sein.

Die meisten der Opfer sind jung, sehr jung. Unter sechs Jahre. 15 Kleinkinder wurden 2022 in Deutschland ermordet, 19 getötet. 44 Menschen unter sechs Jahre wurden fahrlässig getötet, und fünf so schwer verletzt, dass sie starben. 83 tote Kinder unter sechs Jahre, 101 unter 14. Es sind extreme Fälle der Gewalt gegen junge Menschen. Doch die Zahlen zeigen – es sind keine Einzelfälle.

Das Bundeskriminalamt (BKA) registrierte, dass im vergangenen Jahr 17.437 Menschen unter 14 Jahre Opfer von sexualisierter Gewalt waren. Im Durchschnitt werden 48 Kinder in Deutschland missbraucht – jeden Tag. Die Zahlen steigen nicht deutlich an, sie sinken aber auch nicht. Nach Ansicht von Fachleuten aber sind die bekannten Fälle in der Polizeistatistik ohnehin nur die Spitze eines düsteren Eisbergs.

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Das sogenannte Dunkelfeld von Missbrauch an Kindern und Jugendlichen wird deutlich über den behördlich erfassten Fällen liegen. Die Missbrauchsbeauftragte des Bundes, Kerstin Claus, fordert daher mehr Forschung und Befragungen von Betroffenen, um überhaupt zu wissen, wie stark junge Menschen Opfer von Gewalt in Deutschland betroffen sind. Claus hält etwa die Gründung eines Nationalen Rates gegen sexuelle Gewalt für notwendig. Bisher gibt es nach Angaben von Claus zu wenig wissenschaftliche Erkenntnisse. Mit fatalen Folgen: Niemand weiß genau, wie gut der Schutz von Kindern funktioniert.

Armut, Arbeitslosigkeit und Alkohol als Faktoren

Klar ist nur: Kinder und Jugendliche sind Opfer von Missbrauch. Und auch die Corona-Pandemie hatte Auswirkungen auf die Sicherheit und den Schutz junger Menschen in Familien. Im ersten Jahr der Pandemie, 2020, war die Zahl die Gewalttaten gegen Kinder auf einen Höchststand geklettert. 2021 ging die Zahl minimal zurück, die Jugendämter in Deutschland registrierten bei knapp 60.000 Kindern und Jugendlichen eine Gefährdung des Kindeswohls durch Vernachlässigung, psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt. Etwa 600 Fälle weniger als 2020. Gleichzeitig aber stieg die Zahl der Interventionen um zwei Prozent, in denen das Jugendamt zwar nicht das Kindeswohl gefährdet sah, aber zumindest der Familie und dem jungen Menschen helfen musste.

Das Dunkelfeld bei Gewalt gegen Kinder ist groß.
Das Dunkelfeld bei Gewalt gegen Kinder ist groß. © dpa | Annette Riedl

Übergriffe an jungen Menschen kommen in allen Schichten der Gesellschaft vor. Eltern, Geschwister, andere Verwandte oder Pflegeeltern können die Täter sein. Faktoren für Gewalt sind vielschichtig: Armut und Arbeitslosigkeit können zu Stress führen – und damit zu Aggressionen. Fachleute weisen darauf hin, dass auch enge Wohnverhältnisse Gewalt auslösen können. In der Pandemie sind die Zahlen von Straftaten gegen das Kindeswohl auch deshalb angestiegen, weil die Familien im Lockdown viel mehr Zeit zuhause verbringen mussten – ein Stressfaktor gerade in engeren Wohnverhältnissen.

Die Forschung sieht zudem eine Konstante in vielen Fällen: erlernte Gewalt. Haben Eltern als Kinder selbst Übergriffe erlebt, ist es wahrscheinlicher, dass sie auch Gewalt gegen ihre eigenen Kinder ausüben. Und auch Alkohol ist einer der „Trigger“ für Gewalt in Familien. Wer mit Betroffenen, aber auch Tätern spricht, hört immer wieder, dass Taten im Rausch begangen werden.

Erst im Jahr 2000 fiel das elterliche Züchtigungsrecht

Insgesamt sind Schulen, Vereine und Politik sensibler im Umgang mit Übergriffen gegen junge Menschen geworden, die Hilfsangebote wurden in den vergangenen Jahrzehnten ausgebaut. Das war nicht immer so: Gewalt gegen Kinder in der Erziehung wurde erst ab den 1980er-Jahren stärker öffentlich geächtet. Erst 2000 wurde das elterliche Züchtigungsrecht formal abgeschafft. Damit dehnte der Staat sein Gewaltmonopol auf die Familie aus und gewährt Kindern seitdem Schutz vor Übergriffen.

Dank öffentlicher Aufklärungskampagnen und einem verschärften Strafrecht ist die Sensibilität für mögliche Übergriffe gestiegen.
Dank öffentlicher Aufklärungskampagnen und einem verschärften Strafrecht ist die Sensibilität für mögliche Übergriffe gestiegen. © epd | Hans Scherhaufer

Dennoch greifen noch immer viele Väter und Mütter, aber auch andere Verwandte, zu Erziehung mit Drohungen und Schlägen. Zuletzt ist die Zahl der polizeilich registrierten schweren Missbrauchsfälle gestiegen. Lügde, Bergisch Gladbach, Wermelskirchen – es sind Namen von Orten, an denen Kinder durch ein Netzwerk von Tätern schwer sexuell misshandelt und vergewaltigt wurden. 2021 verschärfte die Bundesregierung von Union und SPD das Sexualstrafrecht. Der Besitz von Kinderpornografie etwa ist nun ein Verbrechen – nicht mehr nur ein Vergehen.

Verschärftes Strafrecht hat zu viel mehr Anzeigen geführt

Ursachen für den Anstieg sind laut Bundeskriminalamt (BKA) die Masse der Hinweise auf Kindesmissbrauch im Internet – rund 90.000 strafrechtlich relevante Mitteilungen waren es allein 2022. Oft komme sie von amerikanischen Behörden. In den USA sind die Provider von Internetseiten verpflichtet, Hinweise an staatliche Stellen zu melden. Das BKA gab 2022 allein 68.000 Fälle von mutmaßlichen Delikten im Bereich der Kinderpornografie für Ermittlungen an die Landesbehörden weiter.

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Ursache ist nach Einschätzung von Fachleuten auch das verschärfte Strafrecht – doch auch mit fatalen Folgen: Denn oftmals geraten nun Jugendliche aus „kindlicher Naivität“, oder weil sie gewaltverherrlichende Videos und Animationen vermeintlich „cool“ finden, ins Visier der Polizei. Auch besorgte Eltern, die strafrechtlich relevante Aufnahmen zur Beweissicherung speichern, können so in den Fokus der Sicherheitsbehörden gelangen.

Mit bitteren Folgen, wie Fachleute einheitlich erklären: Früher wären solche Fälle noch als Ordnungswidrigkeit behandelt worden, heute müssen Polizei und Staatsanwaltschaft mit vielen Ressourcen auch minderschwere Fälle oder gar Unschuldige verfolgen. Das frisst Kapazitäten bei Polizei, Staatsanwaltschaft und Gerichte. Strafverfolger wie BKA-Präsident Holger Münch fordern eine Änderung des Strafrechts, da die Verschärfung des Rechts die Falschen treffe – und die Jagd auf kriminelle Gewalttäter gegen Kinder und Jugendliche behindere.

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