Kleine Gruppierungen profitieren von Abschaffung der Fünfprozenthürde. Vor allem Großstädter wenden sich von Kommunalpolitik ab

Kiel. "Viele sind wohl der Meinung, man könne ohnehin nichts ändern", sagte Ralf Stegner, der Landesvorsitzende der SPD in Schleswig-Holstein, am Abend der Wahl. Und Reimer Böge, der CDU-Landesvorsitzende, nahm die Medien in die Pflicht: "Wenn man als Politiker bei jedem politischen Kommentar gleich noch einen Backs mitbekommt, dann führt das nicht dazu, dass das Vertrauen wächst. Dann sagen die Menschen, damit wollen wir nichts zu tun haben." Die sonst so übliche Frage, wer Gewinner und wer Verlierer der Wahl ist, hatte plötzlich an Bedeutung verloren. Sind nicht alle Verlierer, wenn nur noch 46,5 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben?

Der NDR präsentierte flugs eine Umfrage, wonach sich 70 Prozent der Schleswig-Holsteiner nicht in der Kommunalpolitik engagieren wollen. Ralf Stegner sagte: "Die Demokratie lebt nur, wenn es Demokraten gibt. Ich stimme Herrn Böge ausdrücklich zu. Politik wird mehr gescholten, als sie es verdient hat."

Sieht man genauer hin, stellt man fest, dass besonders in den großen Städten diejenigen wohnen, die sich vom manchmal anstrengenden Prozess der demokratischen Debatte und der Meinungsfindung abgewendet haben. In Flensburg unterzogen sich gerade noch 35,9 Prozent der Wahlbürger den "Mühen" der Stimmabgabe. In Lübeck waren es 37,1 Prozent, in Neumünster 39,8 Prozent. Auf dem Land sah es schon etwas besser aus. Beispiel Hoisdorf: In der 3500-Einwohner-Gemeinde im Kreis Stormarn lag die Wahlbeteiligung bei rund 54 Prozent. Auch nicht gerade überwältigend, aber in dem Ort in der Nähe von Ahrensburg ist möglicherweise nicht Verdruss die Ursache, sondern Zufriedenheit. Die Gemeinde ist nahezu schuldenfrei. Seit 1994 hat dort eine Wählergemeinschaft das Sagen, die Dorfgemeinschaft Hoisdorf (DGH). Sie stellt auch den Bürgermeister. Dieter Schippmanns Grundsatz: "Wir geben nur aus, was wir eingenommen haben." Die Wähler honorieren das. 64,88 Prozent bekam die DGH gestern, sie wird wieder elf Sitze in der Gemeindevertretung haben. "So viel Zustimmung muss man erst mal bekommen", sagt Schippmann. Er steht für eine weitere Wahlperiode als Bürgermeister bereit.

Landauf, landab geht es in den nächsten Tagen um die Bürgermeisterposten. 1026 schleswig-holsteinische Gemeinden haben ehrenamtliche Bürgermeister, und deren Amtszeit endete mit der Kommunalwahl. Bei der Neubesetzung werden die etablierten Partien nicht mehr viel mitzureden haben. Gerade auf dieser kommunalen Ebene sind sie auf dem Rückzug. Sie überlassen das Feld den Wählergemeinschaften. Ein Beispiel: Sozialdemokraten kandidierten 1990 noch in 639 Gemeinden, gestern waren es nur noch 448. Die Wählergruppen dagegen haben 2008 erstmals die Mehrheit aller Mandate im Land bekommen - 51,7 Prozent. Diesmal werden es wohl noch mehr sein. Denn weil es bei Kommunalwahlen seit 2008 keine Fünfprozenthürde gibt, gelingt kleinen Gruppierungen immer häufiger der Sprung in die Parlamente.

2,35 Millionen Schleswig-Holsteiner waren zur Wahl aufgerufen - seit 1949 die höchste Zahl der Wahlberechtigten im Land. Ursache ist das Bevölkerungswachstum, besonders die Gemeinden am Rand von Hamburg erfreuen sich seit Jahren eines starken Zuzugs. Im Kreis Stormarn stieg die Zahl der Wahlberechtigten im Vergleich zur Kommunalwahl vor fünf Jahren um 3,8 Prozent, im Kreis Pinneberg waren es 3 Prozent, im Kreis Segeberg immerhin 2,4 Prozent.

Die Wahlbeteiligung sank dennoch weiter. Bei der Kommunalwahl 1994 stimmten noch 70,5 Prozent der Wahlberechtigten ab. 1998 waren es 62,8 Prozent, fünf Jahre später immerhin noch 54,5 Prozent. Nach 49,5 Prozent im Jahr 2008 nun ein neuerlicher Tiefpunkt: 46,5 Prozent.