Die Lösung liegt im Hippocampus: Diese Gehirnregion funktioniert in einem Takt, der sich durch den Schritt der Beine stimulieren lässt.

Hamburg. Friedrich Nietzsche riet, "keinem Gedanken Glauben zu schenken, der nicht im Freien geboren ist und bei freier Bewegung"; das "Sitzfleisch" nannte der Philosoph "die eigentliche Sünde wider den Heiligen Geist". Johann Gottfried Seume, der nach Syrakus wanderte, meinte, "dass alles bessergehen würde, wenn man mehr ginge", und stellte fest: "Wer zu viel im Wagen sitzt, mit dem kann es nicht ordentlich gehen." Michel de Montaigne bekannte: "Meine Gedanken schlafen ein, wenn ich sitze. Mein Geist geht nicht voran, wenn ich nicht meine Beine in Bewegung setze."

Seit der Mensch über Wege und Ziele nachdenkt, vermutet er enge Zusammenhänge zwischen körperlicher und geistiger Fortbewegung. Jetzt will der Neurologe Prof. Dr. med. Gerd Kempermann (41), der seit Juni am "DFG-Forschungszentrum für Regenerative Therapien" der TU Dresden arbeitet, die Ahnung in Wissen verwandeln. Seine Formel: Gehen fördert das Denken - nicht weil Sauerstoff den Geist erfrischt oder Umweltreize die Wahrnehmung kitzeln, sondern aufgrund besonderer Eigenschaften einer Region im ältesten Teil des Denkorgans.

Die Gehirnregion, in der Kempermann den Beweis für seine These sucht, heißt Hippocampus, da sie den Flossen dieses mythologischen Meeresungeheuers ähnelt. Sie ist kaum größer als ein Hemdenknopf, aber sie gibt dem Menschen das Gestern und hebt ihn so über das nur in der Gegenwart denkende Tier. Denn der Hippocampus, der im ältesten Teil unseres Denkorgans sitzt, überführt Erinnerungen aus dem Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis: So wie aus den rasch verfassten Berichten einer Tageszeitung erst durch sorgfältige Bearbeitung ein dauerhaftes Nachschlagewerk wird, konsolidieren sich in dieser Gehirnregion vielfältige Eindrücke zu genau katalogisierten Erinnerungen, etwa zum Personen- und Ortsgedächtnis.

Wie alle Nervenzellen leisten auch die im Hippocampus ihre Arbeit stets im auffälligen Gleichtakt ihrer elektromagnetischen Impulse. Kempermann fand jetzt heraus, dass dieser Gleichtakt, der Wahrnehmung, Erinnerung und damit Denken überhaupt erst möglich macht, durch den Rhythmus des Gehens stimuliert wird - allerdings nur, so das verblüffende Ergebnis, wenn sich die Beine freiwillig bewegen: Das selbst verordnete Genusswandern schenkt dem Spaziergänger, was der erzwungene Dauermarsch dem Soldaten verweigert.

Den Beweis dafür liefern Experimente mit Mäusen. Kempermann teilte sie in Lerner, Schwimmer und Läufer auf. Die Lerner wurden in einem Wasserlabyrinth darauf trainiert, eine Fluchtplattform zu finden, die sie vor dem Ertrinken rettete. Die Schwimmer wurden gezwungen, sich ebenso lange wie die Lerner durch Schwimmbewegungen über Wasser zu halten. Die Läufer aber wurden zu gar nichts gezwungen - in ihren Käfigen stand lediglich ein Laufrad bereit.

Der Forscher wollte wissen, ob "körperliche Aktivität in freiwilliger oder unfreiwilliger Form" die Bildung neuer Nervenzellen bei erwachsenen Säugetieren steigert und wie lange die so gewonnenen Nervenzellen auch tatsächlich aktiv bleiben. Denn Hirnleistungen lassen vor allem deshalb nach, weil Zellen mit der Zeit absterben, ohne in ausreichender Zahl durch Neurogenese, durch Neubildung also, ersetzt zu werden.

Wie viele Neurologen sucht deshalb auch Kempermann hauptsächlich nach einem Mittel gegen die am meisten gefürchtete Alterserscheinung unserer Zeit: die Alzheimerkrankheit.

Rettung vor dieser Geißel der Hochzivilisation verspricht bisher lediglich der Versuch, das Gehirn vor allem älterer Menschen zu ständiger Selbsterneuerung anzuspornen. Wie das funktionieren könnte, lässt sich am Hippocampus besonders gut studieren: Muss er etwa wegen eines Tumors entfernt werden, können Menschen sich nichts mehr merken und verlieren den Orientierungssinn.

Kempermanns Testergebnisse sind eindeutig: In den Mäusen, die ihr natürlicher Bewegungsdrang zu freiwilligen 10 000 bis 20 000 Umdrehungen pro Tag ins Laufrad trieb, überlebten doppelt so viele neu gebildete Nervenzellen wie bei den Lernern und Schwimmern, denen immerhin das Ertrinken drohte - ein Resultat, das wahrscheinlich auch auf den Laufrhythmus zurückzuführen ist.

Auch andere Rhythmen, so der Professor, der selbst jedes Jahr beim Berlin-Marathon mitläuft, wirken sich positiv auf die Denkleistung aus. Deshalb lernen viele Menschen mit Musik besser oder nehmen Bücher auf Spaziergänge mit: Der Renaissance-Poet Francesco Petrarca bestieg den südfranzösischen Mont Ventoux mit den "Confessiones" des Kirchenvaters Augustinus in der Hand, Goethe ließ seinen Romanhelden Werther mit Homer und Ossian auf Wanderschaft gehen, der Sprachphilosoph Karl Philipp Moritz wiederum nahm den "Werther" mit.

Dass Laufen klüger macht, glaubten schon die Peripathetiker ("Umherschlenderer") im alten Griechenland: Sie dachten grundsätzlich im Gehen nach. Die antike Rhetorik-Lehre "ars memorativa" schlägt vor, die Gliederung eines Vortrags gedanklich mit einem imaginären Weg zu vergleichen. In den Sprachen der Welt spiegelt sich der Zusammenhang zwischen körperlichem und geistigem Fortschritt längst vielfältig wider: "Wir kommen mit dem Schreiben in Gang, wir schweifen ab, fassen ab Kapitel III festen Fuß", sagt die Bochumer Literaturwissenschaftlerin Marianne Kersting, "es gibt den Gedankengang, man geht sicher in einer Behauptung, oder ich gehe zu weit mit meiner Argumentation." Der Sprachforscher Jacob Grimm urteilte: "Überhaupt geht der Begriff der Bewegung so mannigfach aus dem Sinnlichen oder Sichtbaren ins Gedachte, Unsinnliche, nur Empfundene über, dass es unmöglich ist, die Fälle zu erschöpfen."

Im Grimmschen Wörterbuch nimmt das Wortfeld "gehen" 99 eng gedruckte Spalten ein. "Es ist erstaunlich, was alles geht", sagt Prof. Kersting, "es geht die Uhr, das Mühlrad, die Ware, wenn sie sich verkauft. Ein Böller geht los, sogar etwas so Unbewegliches wie ein Zaun geht bis an die Grenze, Vorräte gehen zur Neige. Es kommt etwas in Gang. Es geht gut oder schlecht. Es gibt den Lebens-, den Müßig- und sogar den Bildungsgang. Und damit sind wir beim Verb des Denkens. Ich kann mit einem Gedanken schwanger gehen, Gedankenschritte machen. Und schließlich kann etwas durch meine Seele gehen."

Womöglich findet sich im Zusammenklang der Rhythmen von Gehen und Denken sogar der Hauptgrund für den Aufstieg des Menschen zum Spitzenprodukt der Evolution: Auf den Bäumen entwickelte sich das Gehirn unserer spitzmausähnlichen Urahnen durch die besondere Fähigkeit des Greifens mit den Händen nach schnell fliegenden Insekten. Als Klimaänderungen die Wälder verschwinden ließen und die Kerbtierfresser gezwungen waren, auf den Boden neuer Tatsachen herabzusteigen, mussten sie auch eine neue Art der Fortbewegung lernen, aus dem Klettern wurde das Laufen, wiederum mit starken Impulsen auf die Entwicklung des Denkorgans, denn nun waren Fähigkeiten zur Orientierung wie etwa das Ortsgedächtnis viel stärker gefragt.

Die rasante Entwicklung der Großhirnrinde behielt das System des Gleichklangs bei, der Rhythmus des Gehens stabilisiert den Rhythmus des Denkens. Als Nächstes will Kempermann ältere und jüngere Erwachsene auf ein Laufband schicken, das in die virtuelle Realität eines sehr großen Tiergartens integriert ist. Die Versuchspersonen sollen den Zoo laufend erkunden, etwa den Weg von den Pinguinen zu den Bären und zurück finden. Nach vier bis fünf Monaten erwarten die Forscher eine deutliche Vergrößerung des Hippocampus.

Damit wäre bewiesen, was Praktiker längst nutzten. Der verstorbene Fußballlehrer Jupp Derwall etwa pflegte geistig träge gewordenen Nationalkickern vom Spielfeldrand aus zuzurufen: "Jungs, ihr müsst mehr unterwegs sein!"