Die Leichenschauen des Gunther von Hagens ziehen Millionen Menschen in ihren Bann. Wissenschaftler haben dazu Erstaunliches festgestellt - nachzulesen in einem Buch zweier Hamburger.

Die Hamburger Wissenschaftlerin Liselotte Hermes da Fonseca (39) hat seit 1995 alle "Körperwelten"-Ausstellungen des Leichen-Präsentators Gunther von Hagens (61) in Deutschland besucht. 4,5 Millionen Menschen haben sich allein in der Bundesrepublik die von ihm bearbeiteten und ausgestellten Körper angesehen. Einige aus Neugier, andere aus anatomischem Interesse, wieder andere vielleicht mit einer Mischung aus Nervenkitzel und Sensationslust. Die Hamburger Kulturwissenschaftlerin und Redakteurin der Zeitschrift für Politische Psychologie fand aus Forscherinteresse zu diesem Thema - und stieß auf zahlreiche Ungereimtheiten in den "Körperwelten".

So entdeckte sie im Laufe der Jahre an einzelnen Ausstellungsstücken solch gravierende Veränderungen, dass sie sicher ist, "dass dies nicht mehr ein und dieselben Individuen sind". Bei einer männlichen Leiche sei die Tätowierung verschwunden. Die Hautstellen seien durch Teile einer anderen Leiche ersetzt worden, sagt sie.

Ähnliche Beobachtungen machte sie an anderen Körpern. Und sie stieß auf eine andere überraschende Erkenntnis. "Die Präparate zerfallen sehr schnell, etwa innerhalb von zehn Jahren", so die Wissenschaftlerin an der Universität Hamburg.

Die Körper hätten sich von Ausstellung zu Ausstellung deutlich verändert, insbesondere seit der Anfangszeit vor gut zehn Jahren. Die Forscherin beschreibt das in einem von ihr und von ihrem UKE-Kollegen Thomas Kliche (49) herausgebenen Sammelband (siehe Extratext) folgendermaßen: "Flüssigkeiten traten aus und tropften an ihnen herab. Nacht für Nacht wurde diese Flüssigkeit abgewischt, trat tagsüber aber wieder aus und ließ einen der starr blickenden Körper regelrecht weinen."

Bald darauf hätten die Objekte "stumpf, zerrissen und bröckelig" ausgesehen, "feine Fasern brachen und fielen zu Boden".

Mehrere der angeblich "ewig haltbaren" Plastinate seien zeitweise aus den Ausstellungen entfernt worden, um "in einem ganz anderen, modifizierten Zustand zurückzukehren", beschreibt die Forscherin. Einzelne Organe, sogar Körperhälften seien dabei "ausgetauscht, neu gestaltet oder neu gefärbt" worden. Diese Veränderungen an zahlreichen Ausstellungsstücken spiegele auch die Verfeinerung des von Hagens' entwickelten Verfahrens der Plastination wider.

Wenn diese Beobachtung zutrifft, dann gerät allerdings auch das mit der umstrittenen Leichenschau verbundene Gedankengerüst seines Urhebers von "schönen Leichen ohne Verfallsdatum" ins Wanken. Auch ein Großteil der laut von Hagens 6000 freiwilligen Körperspender, die er seine "anatomischen Schätze" nennt, geht wohl davon aus, dass ihr Körper als Ganzes und zudem dauerhaft erhalten bleibe.

Die Rede vom "ganzen Körper" scheine angesichts dessen, was man zu sehen bekommt, "absurd", sagt die Wissenschaftlerin. Seien einige Körper zunächst zerfetzt dargestellt gewesen, zum Beispiel "als Mobile im Wind wehend", hätten die Ausstellungsstücke im Laufe der Zeit "immer mehr die Posen und Formen klassischer Muskelmänner angenommen".

Die wissenschaftliche Skepsis, die aus den 18 Beiträgen des von den Hamburger Wissenschaftlern herausgebenen Buches spricht, sei allerdings unter den sogenannten Körperspendern nicht verbreitet, meint Liselotte Hermes da Fonseca. In Gesprächen mit ihnen seien ihr "sektiererische Tendenzen" aufgefallen, die an religiöse Erlebnisse erinnerten. So falle der Begriff Körperspende, sprachlich angelehnt an die Organspende, immer wieder mit der Begründung, man wolle auf keinen Fall "Ärzten in die Hände fallen", die, etwa bei Organspenden, ihre Macht über Leben und Tod missbrauchten.

Nach dem Tod "mit Kunststoff vollgepumpt zu werden", scheine die von-Hagens-Anhänger allerdings nicht von ihrer Bereitschaft abzuhalten, ihren Körper nach dem Tode dem umstrittenen Mediziner und Anatomen bereitzustellen. Immerhin bestehen die plastinierten Körper zu 70 Prozent aus Kunststoff und seien "formbar wie ein Schnuller", so ein Zitat von Hagens. "Die Spender glauben, dass sie zu einem Plastinat-Individuum werden und sehen nicht, dass vieles einfach wegfällt" und nach Jahren "wie eine schlechte Wachsfigur" aussehe.

Die Hamburger Wissenschaftlerin sieht bei vielen Spendern eine "Grenzverschiebung zwischen Leben und Tod" mit der Folge, dass Leben und Tod "gleich-gültig" erschienen: "Das Beruhigende daran beruht scheinbar darauf, dass ein Zustand des ,noch-nicht-ganz-tot' auf Dauer gestellt als Überleben inszeniert wird." Der Plastinator als eine Art religiös-verbrämter Todesretter.

Dazu passe das Vokabular des Mediziners, der die Plastination 1977 entwickelte, indem er die Gewebeflüssigkeit der Toten durch aushärtenden Kunststoff ersetzte. Durchaus "religiösen Charakter" bescheinigt die Psychologie-Expertin zum Beispiel seinen Formulierungen, er schaffe mit seiner Konservierungstechnik eine "postmortale Existenz". Sogar die "Auferstehung des befleischten Leibes" sei ein verbürgtes Zitat des Mannes, der sich regelmäßig Vorwürfe der Leichenfledderei einhandelt, weil immer wieder konkrete Fragen nach der Herkunft der plastinierten Leichen offen bleiben.

Auch die mit dem Verfahren der Plastination verbundenen Erwartungen und Ansprüche hätten sich im Laufe der Jahre verändert, bemerkt die Kulturwissenschaftlerin. Sei zunächst von einem neuen Verfahren zur Darstellung anatomischer Zusammenhänge die Rede gewesen, das nicht für den Privatgebrauch gedacht sei, gebe es "heute einen Hang zur Kommerzialisierung". So würden von Hagens' Mitarbeiter inzwischen eine Erhöhung der Produktionsgeschwindigkeit ankündigen, um Plastinatscheiben für zehn Euro anbieten zu können. Der Anfang vom toten Haustier, konserviert für den Hausgebrauch?

In der Mannheimer Ausstellung habe ihr eine Mutter erzählt, "ihre Tochter wolle so gern Körper-Scheiben als Tischplatte haben", berichtet Liselotte Hermes da Fonseca. Der Befund der Forscherin: "Die Beschreibung zeigt ein radikales Vergessen, dass es sich hier um Menschen handelt."