Katastrophen: Heute vor 100 Jahren legte ein Super-Beben große Teile von San Francisco in Schutt und Asche. Die Wahrscheinlichkeit, daß es in den nächsten 30 Jahren geschieht, liegt schon bei 62 Prozent. Seit den Erfahrungen von New Orleans will sich keiner mehr auf staatliche Katastrophenhilfe verlassen.

San Francisco. Betty Barker und ihr Mann James gehörten zu dem erlauchten Kreis jener, die mit Opernstar Enrico Caruso nach dessen umjubelter Vorstellung als Don Jose in der Nacht des 17. April 1906 noch feiern durften. Wie die meisten anderen der 100köpfigen Gesellschaft im "Palace"-Hotel schwärmte Betty Barker von der Carmen-Inszenierung im pompösen Opernhaus von San Francisco: "Es war ein einmaliges Erlebnis." Kurz nach Mitternacht löste sich die Party auf. Man ging nach Hause oder in eines der luxuriösen Zimmer des Hotels. Der Opernstar aus Italien bewohnte die Präsidentensuite. Wenige Stunden später, genau um 5.12 Uhr des 18. April, wurden Betty und James Barker genauso jäh aus dem Schlaf gerissen wie Enrico Caruso und alle anderen Einwohner von San Francisco. Ohne Vorwarnung bebte die Erde mehr als eine Minute lang und legte rund ein Drittel der blühenden Stadt in Trümmer.

"Wir wachten auf, als unser Bett plötzlich quer durch unser Schlafzimmer flog, es war schrecklich mein Liebes", berichtete Betty Barker später in einem Brief an ihre Nichte Emma in New York. Über 3000 Leute starben an diesem Morgen und den nachfolgenden drei Tagen, an denen zahllose Brände fast alles vernichteten, was "The Big One" (Das Große), wie die Leute das gewaltige Beben nannten, stehengelassen hatte. Zehntausende wurden verletzt, rund 250 000 obdachlos. Auf der Richterskala wurde das Beben mit einer Stärke von 7,8 registriert. Wissenschaftler errechneten kürzlich, daß es die Gewalt von 12 000 Hiroshima-Atombomben hatte.

Am Abend des 21. April 1906 glich San Francisco einer Mondlandschaft. 28 000 Gebäude waren völlig zerstört.

In den Annalen ist nachzulesen, daß die Bürger der Stadt "mit dem Wiederaufbau begannen, als viele Ziegel noch heiß vom Brand waren". Drei Jahre später standen 24 000 Häuser und Wolkenkratzer wieder. Die Stadt am "Golden Gate", dem Tor zur Neuen Welt, boomte aufs neue. Daran hat sich bis heute nichts geändert. San Francisco rangiert auf der Beliebtheitsskala der Wohnorte in den USA bei den Amerikanern auf Platz 1. Rund um die San Francisco Bay, wo vor 100 Jahren 658 100 Menschen lebten, drängen sich heute 6,7 Millionen. In der Metropole selbst ist die Zahl der Einwohner von 342 800 auf 744 200 gestiegen. Die Zahl der Häuser hat sich auf 353 900 gut verzehnfacht.

Das einzige, das sich nicht geändert hat, ist die Tatsache, daß es sich um ein hochgefährdetes Gebiet handelt. Dabei ist es, so Seismologin Lucy Jones, "nicht die Frage, ob es wieder ein katastrophales Erdbeben geben wird, sondern einzig und allein wann".

Jones, die seit 23 Jahren an der Universität von Südkalifornien in Los Angeles die Erdbebentätigkeit in Kalifornien zu ergründen versucht, kann auf viele Fragen schlüssige Antworten geben; auf die alles entscheidende, wann und wo das nächste "Big One" auftreten wird, weiß allerdings auch die etwas gedrungene Frau mit den lebendigen Augen und der wilden Gestik keine Antwort. "Wir wissen, daß die Gefahr mit jedem Tag größer wird", sagt sie und erläutert, daß es dann zu einem verheerenden Erdbeben kommt, wenn sich die Pazifik- und die Nordamerikanische Erdplatte, die sich gegeneinanderbewegen, verhaken und dann plötzlich loslassen. So haben Wissenschaftler in Südkalifornien mit ihren Supercomputern errechnet, daß die Wahrscheinlichkeit eines "Big One" in San Francisco oder Los Angeles während der nächsten 30 Jahre 62 Prozent beträgt.

Eine erschreckende Zahl, bedeutet sie doch: Für die meisten Kalifornier, die heute 50 Jahre oder jünger sind, ist die Wahrscheinlichkeit sehr hoch, daß sie Zeuge oder gar Opfer eines Erdbebens werden, das so stark oder noch stärker ist als das Desaster von 1906. Für Mark Simmons, einen Geophysiker und Kollegen von Jones, kein Problem. "Eine andere Statistik besagt, daß das Risiko, in Los Angeles ermordet zu werden, fünfmal höher ist als das, bei einem Erdbeben zu sterben", meint der junge Wissenschaftler lachend.

Der große Unterschied zum Beben von 1906 besteht darin, daß die Forschung heute viel mehr über Entstehung und Verlauf weiß und die Menschen viel besser vorbereitet sind. Jones: "Das Erdbeben ist unvermeidbar, die Katastrophe ist es nicht."

Dank moderner Forschung und Technik sowie gezielter Vorbereitung sind Erdbebenexperten zuversichtlich, daß sie die Toten- und Schadenszahlen von 1906 im Falle eines neuerlichen Bebens in San Francisco nicht hochrechnen müssen. So gibt es seit 1967 strenge bauliche Verordnungen, die entscheidend zur Stabilität von Wohnhäusern und Geschäftsgebäuden beitragen. Laurence Kornfield, Chef-Bauinspektor der Stadt an der Golden Gate Bridge, ist zufrieden mit den Verbesserungen der letzten Jahrzehnte: "Viele der alten Backsteingebäude, die zwischen 1906 und 1967 entstanden, wurden nachträglich verstärkt und sollten stehenbleiben, ebenso fast alle Holzhäuser und Wolkenkratzer." Erdbebensicher können Gebäude nach Meinung von Richard McCarthy, dem Direktor des Institutes für Seismologische Sicherheit in Kalifornien, nicht sein, sondern nur erdbebenresistent. McCarthy erklärt: "Das bedeutet, daß Bauten nach dem neuen Standard vermutlich nicht einstürzen und wir lebend rauskommen werden, daß wir sie dann jedoch vermutlich abreißen und wieder aufbauen müssen, weil sie irreparable statische Schäden haben."

Grund für das Inferno 1906 waren zum einen geborstene Gasleitungen in Kombination mit offenen Feuerquellen wie Öfen, Kerzen oder Petroleumlampen, zum anderen zerstörte Wasserleitungen, die ein Löschen unmöglich machte. San Francisco hat aus der Katastrophe gelernt und im ganzen Stadtgebiet Hunderte von Wasserreservoiren angelegt, aus denen Löschwasser gepumpt werden kann, falls wieder einmal der Wasserdruck fehlt. Die Stadtväter hoffen, daß "The Big One" erst nach 2015 kommt. Dann nämlich soll das insgesamt 3,6 Milliarden Euro teure "Hetch Hetchy"-Projekt, das die wichtigsten Wasserleitungen der Stadt "erdbebenresistent" macht, abgeschlossen sein. Auch die Gasleitungen wurden verstärkt.

Seit gut einem Jahr gibt das Rote Kreuz im gesamten Bundesstaat für Privatleute und Unternehmen kostenlose Erdbeben-Hilfskurse. Harry Bastic ist in San Francisco verantwortlich für die Vorsorgemaßnahme. Er besucht mit freiwilligen Helfern Leute in ihren Häusern oder Geschäften und erklärt ihnen, was sie im Ernstfall tun sollen. Das reicht vom Anlegen von Wasser- und Lebensmittelvorräten über die Verstärkung von Gebäuden, Kennzeichnung von Evakuierungsrouten bis hin zum Schutzsuchen unter einem starken Tisch, wenn Gebäudeteile herabstürzen. "Bisher haben wir etwa eine Million Haushalte und Betriebe rund um die San Francisco Bay besucht", erzählt Bastic stolz.

Im vergangenen Sommer bekam die Rot-Kreuz-Aktion unerwartete Hilfe. "Durch die Flutkatastrophe nach dem Hurrikan ,Katrina' in New Orleans ist vielen Menschen bei uns klar geworden, daß sie sich nicht auf staatliche Hilfe verlassen können und sollten", berichtet Matthew Mueller, Chef der Katastrophenhilfe des Roten Kreuzes. Die Erwartung, daß US-Hilfsorganisationen, Polizei, Feuerwehr oder Rotes Kreuz sofort nach einem Desaster zur Stelle sind, erwies sich in New Orleans als Trugschluß, und es könnte bei einem massiven Erdbeben in San Francisco, so Mueller, "sehr ähnlich sein".

Selbst FEMA, die größte amerikanische Hilfsorganisation, die in New Orleans nach Meinung vieler Experten jämmerlich versagte, ist froh über die Lehren, die die Leute in San Francisco und Los Angeles aus der Katastrophe im Süden der USA ziehen. Jeff Lusk, Erdbebenspezialist in der kalifornischen FEMA-Zentrale in Oakland, weist immer wieder darauf hin, daß alle Menschen im Erdbebengebiet so vorbereitet sein sollten, daß sie "mindestens 72 Stunden ohne fremde Hilfe" auskommen. Lusk klagt wie viele andere, daß seit den Terroranschlägen des 11. September 2001 der Großteil der Bundesmittel für den Anti-Terror-Kampf ausgegeben wird und man die Erdbebenhilfe "in Washington fast vergessen hat". Für Lusk ist es keine Frage, daß "die Natur brutaler als jeder Terrorist" sein kann. So macht er auch kein Geheimnis aus den Projektionen für den Ernstfall. "Das Worst-Case-Szenario sind 30 000 Tote und bis zu 80 000 zerstörte Gebäude in San Francisco", erklärt Lusk und fügt hinzu: "Wir sind Ground Zero für Erdbeben in den USA, da müssen wir uns nichts vormachen."

Warum trotz der ungeheuren Gefahr die meisten Leute in San Francisco nicht daran denken, die Stadt zu verlassen, erklärt Feuerwehrchefin Joanne Hazes-White lächelnd: "Erdbeben werden hier weniger als Gefahr, sondern als Lifestyle gesehen."