Hamburg. Zwei Hamburger Expertinnen erklären, welchen Einfluss die DNA wirklich hat – und warum wir unsere Erfahrungen vererben.

Ob Aussehen, Intelligenz, Klamottengeschmack oder Partnerwahl: Wie Menschen durch ihr Leben gehen, scheint schon zu großen Teilen durch ihr Erbgut vorbestimmt. Im Interview erklären die Neurophysiologin Ileana Hanganu-Opatz und die Humangenetikerin Maja Hempel vom Universitätsklinikum Eppendorf, wie das Zusammenspiel von Genen und Erfahrungen tatsächlich funktioniert – und warum nicht nur unsere DNA, sondern auch unsere Erfahrungen an Kinder vererbt werden.

Immer wieder werden neue Einflüsse von Genen entdeckt. Haben wir als Menschen überhaupt die Chance, selbstbestimmt zu leben?

Maja Hempel: Ja, die haben wir in jedem Fall. Aber, vieles ist durch den genetischen Code vorgegeben – wobei wir einen großen Teil der Wirkungsweise der DNA noch nicht entschlüsselt haben. Von 20.000 Genen verstehen wir erst bei etwa 8000 genauer, wie sie arbeiten. Und wir wissen, dass Gene im Laufe des Lebens moduliert werden. Da kommen die Erfahrung und die Umwelt eines Menschen ins Spiel.

Ileana Hanganu-Opatz: Das Zusammenspiel lässt sich gut an der Entwicklung des Menschen zeigen. Die Hirnentwicklung wird am Anfang durch Gene kon­trolliert, dabei laufen Programme wie in einem Computer ab, es entstehen Nervenzellen und Verbindungen zwischen ihnen. Wir sprechen hier von 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn, Hunderttausende davon innerhalb weniger Minuten. Das ist ein wahnsinnig schneller Prozess. Trotzdem errichtet der genetische Code nur den Rohbau, aber das Haus ist nicht fertig. Dieser Rohbau lässt viele Möglichkeiten offen, von einer kleinen Hütte bis zum Schloss.

Wie wirken sich die Einflüsse aus der Umwelt konkret aus?

Hanganu-Opatz: Da sind kritische Phasen, in denen Eindrücke und Erfahrungen für bestimmte Bereiche entscheidend sind. Es gibt dazu ein berühmtes Experiment mit Affen: Jungen Tieren wurde für eine gewisse Zeit ein Auge zugeklebt. Man konnte beobachten, wie die für dieses Auge zuständigen Bereiche im Gehirn kleiner, die für das offene Auge dagegen immer größer wurden. Interessant ist auch, dass der Effekt nicht eintritt, wenn man das Auge zu einem späteren Zeitpunkt in der Entwicklung des Tieres zuklebt.

Wenn man Kinder bekommt, denkt man, dass man sie formen kann. Dann merkt man: Da ist schon ein ziemlich ausgeprägter Charakter.

Hempel: Man kann sich Menschen wie ein Stück Knete vorstellen. Flach, aber schon mit ihren eigenen, feinen Ausprägungen und Mustern. Das ist die genetische Vorbestimmung. Es gibt dabei aber kein einzelnes Gen für die Schüchternheit oder Narzissmus etwa. Erst in Kombination ergeben sie einen Rahmen. Das betrifft etwa auch den Grad der Intelligenz, den Kinder erreichen können.

Hanganu-Opatz: Der Rest liegt wirklich in der Erziehung. Deshalb ist Trägheit hier der falsche Weg. Man kann sehr gut messen und im Gehirn sehen, welchen positiven Effekt es hat, wenn man Kinder mit bestimmten Eindrücken konfrontiert. Das betrifft wirklich alle Bereiche: Kreativität, Musikalität, aber auch die kognitiven Fähigkeiten.

Wo liegt die Grenze zur Reizüberflutung?

Hanganu-Opatz: Zu viel kann natürlich schädlich sein. Kinder sind wie ein Schwamm, sie wollen sehr viel. Man muss sich mit seinem Kind sehr intensiv beschäftigen, um da herauszufinden, wie viel sie wirklich vertragen. Fördern ist das Schlüsselwort – wenn kein Interesse des Kindes da ist, sollte es auch nicht erzwungen werden, sondern auf eine spielerische Weise nähergebracht werden.

Heutzutage wird viel darauf gelegt, möglichst geschlechtsneutral zu erziehen.

Hempel: Aus wissenschaftlicher Sicht gibt es sicher kein einzelnes Rosa-Gen, das das für alle Mädchen zur Lieblingsfarbe macht. Aber wir beobachten schon, wie spezifisch unterschiedlich Geschlechter nun einmal sind. Auch das Gefühl der Geschlechtsidentität hat sicher einen genetischen Hintergrund. Das dürfte auch Fälle betreffen, in denen etwa ein Junge sich als Mädchen fühlt.

Hanganu-Opatz: Die Gehirne von Jungen und Mädchen sind auch einfach unterschiedlich. Diese Geschlechtsneu­tralität, die man oft etwas krampfhaft herzustellen versucht, ist deshalb gar nicht gut. 99 Prozent der Mädchen mögen Rosa, und das sollte man auch akzeptieren können – solange man nicht diskriminiert oder alle Mädchen deshalb zum Ballett schickt. Aus der evolutionären Perspektive sind die Geschlechterunterschiede ja auch entscheidend, damit die Spezies überlebt.

Kinder können anscheinend unabhängig von der Intelligenz viel besser Sprachen lernen als Erwachsene.

Hanganu-Opatz: Ja, das Phänomen gibt es. Diese Fähigkeit ist bis zur Pubertät sehr ausgeprägt und begründet sich auf der Flexibilität der Reifungsprozesse im Gehirn, vor allem im präfrontalen Kortex, die zentrale Stelle der Handlungssteuerung.

Hempel: Woher diese Fähigkeit genau kommt, können wir noch nicht erklären. Das ist ähnlich wie die Frage nach dem Altern. Wir wissen, dass Prozesse in Gang kommen, dass sich unsere Zellen immer weniger regenerieren, dass sehen wir an der Haut und an den Knochen. Auch Nervenzellen im Gehirn teilen sich weniger. Chromosomen verlieren an Länge. Auch hier scheint eine genetische Bestimmung vorzuliegen, wie lange die Programme andauern.

Hanganu-Opatz: Interessanterweise gibt es nur zwei Bereiche im Gehirn, in denen bis zum Lebensende neue Nervenzellen entstehen: Bei der Dufterkennung und im Bereich des Gedächtnisses. Es wird intensiv daran geforscht, das näher zu erklären.

Beeinflussen Erinnerungen und Eindrücke auch die Gene?

Hempel: Ja, es gibt faszinierende Ergebnisse dazu aus Studien der Epigenetik. Das beste Beispiel ist eine Untersuchung von Menschen, die in den Niederlanden während des Zweiten Weltkrieges Hunger gelitten haben. Man hat nachgewiesen, dass die Nachfahren ein erhöhtes Risiko für Fettleibigkeit, Diabetes und Bluthochdruck haben. Die Spermien und Eizellen haben damals also bereits die Information bekommen, dass Essen ein knappes Gut ist.

Trägt also jeder auch die Erfahrungen seiner Eltern schon in der DNA mit sich?

Hempel: Davon kann man zumindest für große, umfassende und prägende Ereignisse wie den Weltkriegen ausgehen. Es gibt auch große Familienstudien, die belegt haben, dass die Folgen nicht nur bei der Nachkriegsgeneration, sondern auch deren Kindern noch sichtbar sind.

Welche Wirkung haben die großen persönlichen Erfahrungen wie der erste Liebeskummer oder ein Schicksalsschlag?

Hanganu-Opatz: Das hängt sehr von der Widerstandskraft des Individuums ab. Wir sprechen hier über die Wirkung der chemischen Botenstoffe. Welche Kaskaden sie im Gehirn auslösen, hängt davon ab, wie die Verbindungen der Nervenzellen entstanden sind und wie stabil sie sind. Wie empfindlich die Rezeptoren für die Hormone sind, ist wiederum eine Frage der Genetik.

Ist bei jedem Menschen vorbestimmt, wie schlimm man sich in der Pubertät verhält?

Hanganu-Opatz: Das hängt eindeutig eher von den Umständen ab. Eine Pubertät als Zeit der Rebellion, wie wir sie heute in der westlichen Welt kennen, gab es vor 100 Jahren in dieser Form nicht. Das liegt einfach daran, dass Kinder damals viel früher Verantwortung übernehmen mussten. Entsprechend musste auch ein vernünftiges Denken früher entwickelt werden.

Inwieweit sind psychische Erkrankungen durch die DNA?

Hempel: Das hat einen Einfluss, der jedoch etwa bei Depression vergleichsweise gering ist. Hier steigt das Risiko durch genetische Vorbelastung selbst zu erkranken, um einen einstelligen Prozentwert. Bei körperlichen Krankheiten kann das Risiko dagegen leicht um 25 oder 50 Prozent erhöht sein.

Wenn der genetische Code das Überleben sichern soll, ergibt es kaum Sinn, dass es überhaupt psychische Krankheiten gibt.

Hempel: Die Gene machen sich keine Gedanken darüber, was sie für eine Wirkung haben. Sie sind einfach da. In relevanten Genen finde ich zwei bis sieben Abweichungen von einem Menschen zum anderen. Die Natur spielt und probiert aus. Dann ist es die Evolution, die sagt: Mit dieser genetischen Ausstattung geht es weiter, mit dieser nicht.

Spätestens mit Anfang 30 fühlt man sich ausgereift. Dafür lernt man langsamer. Hat man auch Vorteile?

Hanganu-Opatz: In der Tat nimmt die Flexibilität mit dem Alter ab, aber das Gehirn bleibt ein trainierbares Organ. Man kann sich anpassen an verschiedene Umstände, ohne dass für einen gleich die Welt untergeht.

Viele nicht mehr ganz junge Menschen beobachten, wie sie immer mehr wie ihre Eltern werden. Kann man das erklären?

Hempel: Auch hier ist der Effekt bekannt, aber der genaue Mechanismus noch nicht entschlüsselt. Fest steht, dass bestimmte Persönlichkeitsausprägungen schon programmiert scheinen. Es gab Studien mit Zwillingen, die in verschiedenen Familien aufgewachsen sind. Jahrzehnte später hatten sie beide etwa eine blonde Frau, rauchten dieselbe Zigarettenmarke und bevorzugten dasselbe Bier.

Gibt es Gene, die erst im Alter aktiv werden?

Hempel: Ja, die gibt es, und diese haben auch einen Einfluss auf den Prozess des Alterns. Durch das eigene Verhalten kann man dem aber gegensteuern.

Hanganu-Opatz: Ich werde oft mit der Frage konfrontiert, ob das Altern sozusagen eine „Entwicklung rückwärts“ ist. Das können wir nicht sicher sagen. Auch etwa ein Schlaganfall oder Medikamente trüben das Bild in den Studien. Man hat in Versuchen mit alten Ratten beobachtet, dass sie sehr viel vorsichtiger waren als jüngere Tiere, offenbar ähnliche Muster an den Tag legen wie ältere Menschen. Auch hier gab es jedoch sehr aktive Tiere. Wahrscheinlich ist ihnen dies ebenfalls bereits über die DNA in die Wiege gelegt worden.

Haben Sie eine Empfehlung, wann man anfangen sollte, sein Gehirn zu trainieren?

Hanganu-Opatz: Das Wichtigste ist, sich selbst die Fähigkeit zu behalten, immer lernen zu wollen. Das ist ganz unabhängig vom Alter.

Hempel: Als Ärztin kann ich nur raten: Schädigen Sie Ihr Gehirn nicht mit Alkohol oder Nikotin, gönnen sie sich eine gute Work-Life-Balance und ausreichend Erholung. Dann wird es Ihnen – fast unabhängig von den genetischen Voraussetzungen – auch im Alter weiter gut gehen.