Hamburg. Wann fahren wir autonom? Wie lange gibt es noch Bargeld und E-Roller? Und wieso verlassen wir unser Zuhause in Wirklichkeit nie mehr?

Er ist mit dem Klapprad gekommen, sie hat ein Rollköfferchen dabei, um im Anschluss an unser Gespräch einen Zug nach Freiburg zu nehmen. Dr. Christoph Haferburg und Prof. Dr. Katharina Manderscheid sind so mobil, wie man es von Mitarbeitern einer Universität kennt. Beide sind häufig umgezogen, immer dem Job hinterher. Mobilität und Verkehr sind eng miteinander verknüpft, aber auch Flexibilität und Erreichbarkeit spielen eine Rolle. Die Wissenschaftler lehnen beide WhatsApp ab, wissen aber nicht, wie lange sie diese Abstinenz noch durchhalten können, ohne sozial ins Abseits zu geraten.

Der Mensch an sich ist immer schon mobil gewesen, er war nur auf eine Infrastruktur angewiesen. Mit der neuen Technologie kann er nun unterwegs alles tun, was er vorher ortsgebunden machen musste, zum Beispiel Lebensmittel einkaufen, Bankgeschäfte tätigen, Geschenke besorgen usw. Eine Befreiung?

Prof. Katharina Manderscheid: Es führt sicher auch zu einer Verdichtung der Zeit, „leere“ Zeiten, in denen man einfach nichts tun kann, verschwinden. Manche Tätigkeiten werden aber für immer ortsgebunden bleiben – Kochen, Schlafen, der Bereich der Care-Arbeit … das wird nie im Internet aufgehen. Und wenn Sie mal in Mecklenburg unterwegs waren, wo das Mobilfunknetz sehr dünn ist, merken Sie, dass auch unsere tragbaren Kommunikationstechnologien auf ortsgebundene Infrastrukturen angewiesen sind. Man braucht fixe Infrastrukturen wie Mobilfunkmasten, Serverfarmen, Lagerhäuser, Verkehrswege, vor Ort arbeitende und ausliefernde Menschen und Fahrzeuge. Andererseits führt Onlineshopping zu einer Reduktion der In­frastrukturen vor Ort – kleine Läden können mit den großen Internetkonzernen nicht mithalten. Das heißt, hier verschieben sich Abhängigkeiten von Angeboten und Infrastrukturen vom analogen in den digitalen Raum.

In welchen Bereichen sind wir viel mobiler als früher?

Manderscheid: Im Bereich Tagesdistanzen: Im Durchschnitt legt heute jede Person in Deutschland täglich 39 Kilometer zurück. Die zurückgelegten Distanzen steigen mit dem Einkommen und sind im Alter niedriger als während der Berufstätigkeit. Und im Bereich der Flugreisen: 30 Prozent der Personen in Deutschland fliegen mindestens einmal im Jahr. Auch hier steigen die Zahlen kontinuierlich. Allerdings nimmt die Mobilität aus der eigenen Blase, die Möglichkeit, sich nicht nur geografisch, sondern auch sozial von einem Ort zu entfernen, ab. Man hat alle sozialen Kontakte ständig dabei, hat Informationen ständig verfügbar und kann an vielen Orten die gewohnten Dinge einfach bestellen, sofern man das ökonomische Kapital hat.

Haferburg Die ökonomische Globalisierung hat die Standortbindung von Produktion, Finanzierung und Konsum jedenfalls deutlich dynamisiert. In der Konsequenz mussten viele Arbeitskräfte mobiler werden – und aktuell zeigt die Initiative des Gesundheitsministers, Pflegekräfte aus anderen Ländern anzuwerben, dass diese Dynamik zumindest kurzfristig weiter fortgeschrieben wird.

Es gibt aber auch Grenzen unserer digitalen Mobilität. Ich kann nicht digital essen beispielsweise.

Dr. Christoph Haferburg: Gesellschaftliche Teilhabe kann unterschiedlich organisiert werden – aber solange Menschen biologische Wesen bleiben, werden direkte Sozialkontakte eine zentrale Rolle spielen.

Manderscheid: Auch für alle Formen der sozialen Beziehungen scheinen zumindest gelegentliche physische Treffen notwendig zu sein, um die Bindung aufrechtzuerhalten. Auch Care-Arbeit lässt sich nicht vollständig digitalisieren – in diesem Bereich ist physische Kopräsenz von Menschen wesentlich.

Wer online ist, kann sich vernetzen. Bedeutet es im Umkehrschluss: Ohne Mobilität keine gesellschaftliche Teilhabe?

Manderscheid: Das stimmt sowohl für physische als auch für digitale Mobilität. Für die Jüngeren bedeutet ab einem bestimmten Alter ein Smartphone die Teilhabe an sozialer Interaktion. Internet und Handy bedeuten soziale Erreichbarkeit, das Festnetztelefon hingegen verliert immer mehr an Bedeutung.

Inwiefern hängen Mobilität und Identität zusammen?

Manderscheid: Verkehrsmittel wie das Auto sind wichtige Distinktionsmerkmale. Auch bewusst kein Auto zu haben, ist ein Distinktionsmerkmal und damit verbunden mit Identität. Aber auch Reisen markieren gesellschaftliche Unterschiede – es lässt Rückschlüsse auf die soziale Position zu, ob man eine Kreuzfahrt unternimmt, mit dem Fahrrad die Alpen quert, mit dem Rucksack durch Indien reist oder nach Mallorca zum Ballermann fliegt. Und tendenziell trifft man dann auf seines- bzw. ihresgleichen auf diesen Reisen. Soziale Netzwerke als Produkt von virtueller Mobilität stellen für viele ein wichtiges Selbstdarstellungsmedium dar.

Bewegen wir, oder werden wir bewegt?

Haferburg: Manche bewegen mehr als andere, viele werden bewegt – aber wenn sich viele in eine neue Richtung bewegen, werden manche auch dazu bewegt werden, die sich heute noch nicht so bewegen.

Manderscheid: Unsere Bewegungen sind vorgegeben durch gebahnte Wege – seien es im Verkehr die Straßen und Fußwege – oder im Internet die verfügbaren Verbindungen und Angebote. Innerhalb dieser vorgegebenen Bahnen haben wir aber durchaus Spielräume und immer auch die Möglichkeit, uns nicht zu bewegen. Die Fahrzeugtechnologie übernimmt immer mehr Kontrolle darüber, wie wir uns bewegen, etwa über Assistenzsysteme.

Bei einem Auto handelt es sich um mehr als nur um ein Verkehrsmittel, es ist ein fundamentaler Bestandteil der modernen Gesellschaft.

Haferburg: Naheliegend wäre es, hier Parallelen zur veränderten Medienwelt zu sehen: das Auto mit Verbrennungsmotor kann schon bald so antiquiert wirken wie Videokassetten oder Schallplatten, auch wenn es ähnlich wie bei der Vinylplatte eine Nische für Liebhaber geben mag. Die Zukunft ist dann aber nicht der programmierbare Videorekorder, um im Bild zu bleiben, sondern ein Systemwechsel.

Manderscheid: Schon die gebaute Form unserer Gesellschaft – Siedlungsstrukturen, Landschaften – sind auf das Auto ausgerichtet. Die Organisation des Alltags, des Erwerbslebens und der Freizeit, setzt in vielen Bereichen gerade außerhalb der Städte ein Auto voraus. Führerscheinerwerb stellt auf dem Land immer noch den Eintritt ins Erwachsenenleben dar. Bei Jugendlichen in den Städten spielen ein eigenes Auto und der Führerschein eine abnehmende Rolle.

Ist unsere Zukunft selbstfahrend? Und können autonomes Fahren und Carsharing wirklich eine Antwort auf unsere Verkehrsprobleme sein?

Manderscheid: Entscheidend wird sein, ob es sich um private Autos oder kollektive Autos handelt, etwa als Taxidienstleistungen. Wenn private Autos autonom fahren, würde das zudem die Gefahr bergen, dass der Verkehr noch zunimmt: Autos fahren alleine, um jemanden abzuholen, einen Parkplatz zu suchen. Mein Auto könnte ich ja einfach hier um den Block fahren lassen, während wir hier im Verlag sprechen. Dann wäre das eine Verschärfung des Verkehrsproblems. Hingegen könnte Car-sharing die privaten Autos ersetzen, die Zahl der Autos verringern. Tatsächlich ersetzt heute eine Carsharing-Mitgliedschaft häufig nur das Zweitauto, nicht aber den Autobesitz überhaupt.

Selbstfahrende Autos waren früher Teil von Utopien – kommen wir unserer Zukunft immer näher?

Manderscheid: Das Versprechen, dass Autos selbstfahrend werden, ist fast so alt wie das Auto selbst, und immer heißt es, dass selbstfahrende Autos in etwa 20 Jahren kommen. Jetzt hat sich die Zeitspanne verkürzt auf 10 bis 15 Jahre. Ich denke, dass immer mehr Teile des Fahrens automatisiert werden, dass aber die vollkommen selbstfahrende Zukunft so schnell nicht kommt.

Mobilität und Verkehr sind zwei der größten ökologischen Probleme der Städte. Wie sieht die Situation in Hamburg aus?

Haferburg: Hamburg steht bezüglich des Modal Splits – also des Anteils der unterschiedlichen Verkehrsmittel am Verkehrsaufkommen - im Vergleich zu den größten deutschen Städten mittelmäßig dar: Berlin (67%) und München (66%) haben beispielsweise laut der aktuellen MiD-Studie etwas höhere Anteile des Umweltverbunds (Fahrrad, zu Fuß und ÖPNV) und sind so gesehen schon weiter als Hamburg mit 64 Prozent.“ Wenn man kleinere Großstädte wie Freiburg, Münster oder Göttingen heranzieht, in denen über 70 Prozent ohne Auto mobil sind, dann steht Hamburg relativ schlecht da – und erst recht, wenn man über den Tellerrand nach Kopenhagen schaut: auch eine Millionenstadt, aber dort hat das Auto nur noch einen Neun-Prozent-Anteil am Stadtverkehr.

Manderscheid: Die Erhebung Hamburg-Bus, durchgeführt durch das WISO-Forschungslabor der Universität, stellt fest, dass Verkehr von den Hamburgerinnen und Hamburgern als zweitwichtigstes Problem nach der Wohnungsfrage angesehen wird. Beide Aspekte hängen natürlich auch zusammen – weil immer weniger Menschen sich eine Wohnung in Hamburg leisten können, müssen sie außerhalb wohnen und für die Arbeit beispielsweise in die Stadt pendeln.

Wie könnte eine ökologisch nachhaltige bzw. gerechte Mobilität gestaltet werden?

Manderscheid: Beides muss gleichzeitig in Angriff genommen werden. Häufig wird die soziale Ungleichheit gegenüber ökologischen Maßnahmen als Blockadeargument ins Feld geführt. Aus ökologischer Sicht müssen der motorisierte Individualverkehr und der Flugverkehr unbedingt reduziert werden, eine Elektrifizierung allein wird nicht ausreichen.

Haferburg: Der Mobilitätsforscher Weert Canzler sagt: an der Dekarbonisierung kommt niemand vorbei. Eigentlich liegt es auf der Hand: individuelle Mobilität auf kurzen Strecken per Rad, für längere Strecken gibt es E-Bikes oder einen ausgebauten und günstigeren ÖPNV und auf der Langdistanz die Bahn. In den Randzeiten bzw. in peripheren Regionen können E-Fahrzeuge eine Rolle spielen. Aber das Verkehrssystem wird kaum gerechter sein als die Gesellschaft.

Stellen E-Roller nur einen kurzfristigen Trend dar, oder werden wir uns an sie gewöhnen (müssen)?

Haferburg: E-Tretroller als Sharing-Angebot basieren derzeit auf einem Geschäftsmodell, dass vor allem am Kundenzugang interessiert ist. Die Preise bewegen sich deutlich über dem Niveau von Leihfahrrädern, obwohl diese sicherer und etwa genauso schnell sind. Sogar E-Motorroller sind teils billiger zu mieten, und die müssen zum Laden nicht eingesammelt werden. Insofern bezweifle ich, dass diese Form der E-Tretroller überlebt, aber auch hier spielt die Politik eine Rolle, denn Leihräder sind in Hamburg stationsgebunden, die Roller nicht. Deswegen stehen sie ja überall herum, für die Nutzer*innen ist das ein Plus. Der aktuelle Boom der Roller zeigt: bei Mobilitätsentscheidungen spielt auch das Fahrerlebnis eine wichtige Rolle, oder allgemeiner: Wie gerne bin ich auf eine bestimmte Weise unterwegs? In Hamburg ist zu Fuß gehen am beliebtesten, gefolgt vom Fahrrad. Das Auto kommt erst an dritter Stelle, dann der ÖPNV – aber viele Menschen folgen diesen Vorlieben im Alltag nicht. Man möchte zügig, zuverlässig, kostengünstig und sicher ankommen, aber sich eben auch unterwegs wohlfühlen.

Manderscheid: Was mit den E-Rollern passiert, wird sich zeigen müssen. Auf jeden Fall besteht hier noch Regelungsbedarf. Und ein Problem ist die Übernutzung von Fuß- und Radwegen durch immer mehr Fahrzeuge. Im Bereich der Integration des sogenannten Aktivverkehrs – also Fahrrad- und Fußverkehr – ist Hamburg nicht vorn mit dabei. Zudem hatte Hamburg ein sehr gut ausgebautes Straßenbahnnetz, das in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgebaut wurde. Aus heutiger Sicht eine Fehleinschätzung!

Welche neuen Mobilitätskonzepte finden Sie umsetzbar?

Haferburg: Für eine Verbesserung des Radverkehrs sind viele Instrumente erprobt: mehr Verkehrsfläche in besserer Qualität, effiziente Routenführungen mit abgestimmten Ampelschaltungen, klare Ausweisung und Beschilderung, sichere und überdachte Abstellmöglichkeiten. Eine konsequente Ahndung von dichtem Überholen und die Ausweisung von Fahrradstraßen sind weitere wichtige Bausteine. Beim ÖPNV sieht es komplexer aus, aber Ride-Sharing zeigt, dass hier schnelle Änderungen möglich sind. Und alltägliches Autofahren sollte in der Stadt zur Ausnahme werden. Parkraumbewirtschaftung kann hier gerade in Hamburg noch viel erreichen.

Manderscheid: Das, was als umsetzbar wahrgenommen wird, kann sich schnell ändern. Vor einem Jahr war eine CO2-Bepreisung für die Politik noch nicht vorstellbar, jetzt wird sie eingeführt. Angesichts der Klimakrise müssen schnell radikale Veränderungen im Verkehr umgesetzt werden. Eine von Greenpeace beauftragte Studie kommt zu dem Schluss, dass Diesel- und Benzinfahrzeuge in Europa bis spätestens 2025 auslaufen müssen, um die globale Erwärmung mit einer Wahrscheinlichkeit von 66 Prozent unter 1,5 °C zu halten. Manche Städte experimentieren mit kostenlosem Nahverkehr oder mit dem sogenannten 365-Euro-Jahresticket, auch das galt lange als illusorisch.

Wir werden vielleicht mobiler, körperlich bewegen wir uns aber weniger. Hängt das irgendwie zusammen?

Manderscheid: Das stimmt sicherlich im Durchschnitt, nicht aber für alle sozialen Gruppen in gleichem Maße. Marathonläufe boomen, und auch beispielsweise an der Elbe sehen Sie bei jedem Wetter Läuferinnen und Läufer. Der Anteil der Radfahrerinnen und Radfahrer nimmt sichtbar zu. Allerdings werden Kinder immer häufiger gefahren, und der Straßenraum gilt gerade für Kinder als zu gefährlich, um sich dort selbstständig zu bewegen. Insofern besteht in den Städten eine Spirale zwischen mehr Verkehr und weniger Bewegung im Straßenraum.