Die Leiden des großen Komponisten finden sich in Worten und Melodien, etwa in der Oper „Siegfried“, wieder. Das belegt eine neue Studie.

Kiel. Chronische Migräne war für den Komponisten Richard Wagner „die Hauptplage“ seines Lebens. Wissenschaftler der Schmerzklinik Kiel konnten nach eigenen Angaben nun erstmals belegen: In seinen berühmtesten Werken spiegelt sich das Erleben der Qualen sehr deutlich wider. Die Studie wurde am gestrigen Donnerstag im renommierten „British Medical Journal“ veröffentlicht.

„Die Erfahrung von Leid und Schmerz wird in der Musikgeschichte beispiellos treffend an vielen Stellen in Wagners Werken thematisiert und erlebbar gemacht“, sagt Prof. Hartmut Göbel, Migränespezialist und Chefarzt der Schmerzklinik Kiel. Und das sei keineswegs Zufall. In einer Studie sei es ihm und seinen Mitautoren gelungen zu belegen: Der Komponist wurde von tagelangen schweren Migräneattacken geplagt – und sein Leiden daran floss in seine Kompositionen mit ein.

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„Richard Wagner hat sein Schmerzerleben in Musik, Dichtung und Inszenierung als Gesamtkunstwerk umgesetzt. Nachfolgende Generationen können so unmittelbar Richard Wagners Empfindungen und Wahrnehmungen miterleben“, sagt Göbel.

Pro Tag haben 900.000 Menschen in Deutschland einen Migräneanfall

Die Untersuchung zeigt dies unter anderem am Beispiel des Beginns des ersten Aktes von Wagners Oper „Siegfried“: ein anschwellendes Brummen, die Steigerung zu einem pulsierenden, pochenden Rhythmus mit schrillem Hämmern, dann der Ausruf des Sängers: „Zwangvolle Plage! Müh ohne Zweck!“ Für die Schmerzforscher besteht kein Zweifel, dass Wagner hier den Beginn eines Migräneanfalls vertont hat. Von der Ankündigung mit dumpfem Pochen bis zur Pulsation der Schmerzen auf dem Höhepunkt der Attacke: „Der klassische Verlauf eines Migräneanfalls lässt sich Takt für Takt an der Musik nachvollziehen“, so Göbel.

Die Experten fanden sogar Passagen, in denen Wagner eine Aura – die neurologischen Begleitsymptome einer Migräne mit Flimmern vor den Augen – in einer flirrenden, flackernden Melodielinie mit Zickzackmuster vertonte und szenisch umsetzte. Die experimentelle Flimmerfrequenz im Forschungslabor während einer Migräneaura stimme dabei mit dem von Wagner gewählten musikalischen Tempo überein.

In den Lebenserinnerungen und Briefen von Richard Wagner sowie in den Tagebuchaufzeichnungen seiner zweiten Ehefrau Cosima Wagner wird das schwere Kopfschmerzleiden von Richard Wagner eingehend beschrieben, führen die Wissenschaftler aus. Der Komponist selbst beklagte demnach detailliert seine „nervösen Kopfschmerzen“ während der Arbeit an der Komposition der Oper „Siegfried“.

Bei der Analyse von Wagners Aufzeichnungen und Briefwechseln stellten die Wissenschaftler fest: An vielen Stellen ist dessen Werk zwar von seinem Leiden inspiriert. Oft machte ihm die Migräne das Komponieren aber auch gänzlich unmöglich. Dann waren die Schmerzen so stark, dass er „nicht einen Takt mehr niederschreiben“ konnte. Tatsächlich unterbrach der Komponist seine Arbeit an der „Siegfried“-Oper und den Ringzyklus für mehr als ein Jahrzehnt.

„Zu Wagners Zeiten gab es noch keine effektive Therapie gegen Migräne“, sagt Hartmut Göbel. „Heute könnten wir ihn wirksam behandeln.“ Vermutlich hätte Wagner dann deutlich mehr und noch komplexere Werke schreiben können, so der Schmerzforscher. Die Frage sei aber auch: „Wie hätten sich diese dann angehört?“

In Deutschland würden täglich 900.000 Menschentage durch Migräneanfälle zerstört, so der Schmerzforscher. Nur drei von zehn betroffenen Patienten mit Migräne wüssten, dass der Name dieser Qualen Migräne hieße. Bei einigen Betroffenen kündigen sich die Anfälle an. Die Boten sind bleierne Müdigkeit und genervte Reizbarkeit, aber auch überschäumende Kreativität, Rastlosigkeit oder unbremsbares Gähnen. Bei einem Teil der Betroffenen treten vor dem Schmerzanfall langsam sich ausbreitende Lichterscheinungen auf: Zickzacklinien im Gesichtsfeld, gleißendes Licht oder sirrendes Flimmern. Sie können begleitet sein von Schwindel, Sprachstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten, Müdigkeit oder sogar Bewusstlosigkeit. Aura wird dieser Abschnitt der Anfälle genannt. Auren entwickeln sich meist über 20 bis 30 Minuten und klingen dann langsam wieder ab. Spätestens eine Stunde nach Beginn der Aura brechen die Schmerzen aus. Auch Gerüche, Geräusche und Licht schmerzen. Es folgen Übelkeit und Brechreiz.

Bei der Auslösung der Migräneattacken müssten auslösende Faktoren – sogenannte Triggerfaktoren – von den eigentlichen Ursachen streng getrennt werden, so Göbel. Während die Ursache in einer spezifischen, übermäßigen Reaktionsbereitschaft des Organismus besteht, können Triggerfaktoren sehr mannigfaltige Bedingungen sein, die die Migränekaskade zum Ablaufen bringen. Dies können etwa plötzlicher Stress, ausgeprägte Emotionen oder Überanstrengung sein.

In einem Video zur Publikation erklären die Forscher mit Musikbeispielen aus der Inszenierung der Oper „Siegfried“ (2009) von Anthony Pilavachi am Theater Lübeck, wie Richard Wagner die Migräne in seinem Werk umsetzte