Vor 25 Jahren explodierte Reaktor 4 im Atomkraftwerk Tschernobyl. Die Reise ins Sperrgebiet ist auch ein Blick in die Zukunft von Fukushima.

Die Fahrt aus dem Wald heraus mündet in eine langgezogene Linkskurve. Nach den letzten Bäumen öffnet sich eine Heidelandschaft und gibt den Blick frei auf eine Reihe von fertigen, halb fertigen und bereits wieder verfallenden Gebäuden, auf Kräne, Hochspannungsleitungen und einen weit geschwungenen Bewässerungskanal. Dies war eines der Kraftzentren der sowjetischen Energiewirtschaft, bis zum 26. April 1986. An diesem Tag explodierte der Reaktor 4 des Atomkraftwerks Tschernobyl und überzog viele Landstriche Europas mit einem Ausbruch von radioaktiven Spaltprodukten.

Das größte der Gebäude verläuft am Horizont. Es beginnt mit einer flachen Silhouette von rechts nach links, ragt dann steil auf in einen höheren Trakt, der von einem Stahlturm überragt wird. Ganz links bildet eine wuchtige Betonkonstruktion den Abschluss: der Sarkophag von Tschernobyl, Ikone für die zerstörte Hoffnung auf eine saubere und gefahrlose Nutzung der Atomkraft.

Der kleine Reisebus aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew folgt dem Kanal, passiert das Kraftwerk an der rechten Seite und fährt an der langen Front vorbei zum Reaktor 4. Der Radiometer in der Hand des Greenpeace-Kernphysikers Heinz Smital rauscht, kratzt und knackt lauter als zuvor. "Hier ist kontaminiertes Gebiet", sagt Smital. Auf dem Parkplatz vor dem Sarkophag schlägt der Zeiger auf 4000 Einheiten aus. "Counts per minute" misst das Gerät, wie es in der Fachsprache der Atomexperten heißt, die Zahl der radioaktiven Zerfallsprozesse. In Kiew waren es zehn Einheiten, am Beginn des Kraftwerksareals etwa 500.

Im Januar hatte die Umweltschutzorganisation Journalisten aus Deutschland und Europa eingeladen, die Folgen der Kraftwerkskatastrophe in der Ukraine vor 25 Jahren zu besichtigen. Die Historie wurde von der Gegenwart brutal überholt. Das schwere Erdbeben und vor allem der Tsunami, die Japan am 11. März heimsuchten, brachten das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi im Nordosten des Landes außer Kontrolle und teilweise zur Explosion. Aus mindestens zwei der insgesamt sechs Reaktoren und aus einem Abklingbecken für Brennelemente dringen seither hohe Dosen von Radioaktivität und bedrohen das Leben in der Region. Am 12. April stufte Japans Regierung die Katastrophe in Fukushima auf der internationalen INES-Skala von 5 auf den Höchstwert 7 herauf. Diese Obergrenze war zuvor nur ein einziges Mal bei einem Unglück in einem Atomreaktor erreicht worden. 1986 in Tschernobyl.

In verwaschenen Grau- und Brauntönen ragt der Sarkophag auf dem Gelände des Kraftwerks empor. Mehr als 300 000 Menschen - vorwiegend Einheiten der Armee und der Milizen - hatte die Sowjetregierung im Frühjahr und Sommer 1986 mobilisiert, um den Brand im explodierten Reaktor zu löschen und mit dem Aufbau einer Schutzhülle zu beginnen. Insgesamt arbeiteten in den Jahren nach dem Unglück bis zu 800 000 sogenannter Liquidatoren an der Ruine des Reaktors, um zu bändigen, was im Kern nicht zu bändigen ist - die fortwährende Entwicklung von Radioaktivität.

Hunderte Helfer der ersten Stunde, vor allem Soldaten, starben bald darauf an den Folgen ihrer Verstrahlung. Die genaue Zahl der Folgetoten in der Region und in ganz Europa ist bis heute heftig umstritten. Greenpeace nennt nach der Auswertung mehrerer aktueller Studien die Zahl von 93 000. "Die Erhebungen darüber sind auch deshalb so schwierig, weil die Sowjetregierung die Katastrophe am Anfang tagelang vertuschte und Daten fehlen", sagt Tobias Münchmeyer, stellvertretender Leiter der Greenpeace-Vertretung in Berlin, der die Gruppe begleitet. "Und bis heute ist weitgehend unklar, welcher Strahlung die Menschen im südlichen Teil von Weißrussland ausgesetzt sind, der nahe an Tschernobyl liegt." Das autoritär regierte Land lasse keine unabhängigen Messungen zu.

Bei einer Tagestour durch das Sperrgebiet von Tschernobyl ist man laut Greenpeace einer Strahlung von etwa drei Mikrosievert ausgesetzt - sofern man sich streng an die Sicherheitsregeln hält. Dazu gehört etwa, außerhalb des Busses nichts zu berühren und nicht unnötig Staub aufzuwirbeln, der Radioaktivität enthalten könnte. An diesem Morgen hat es geregnet - das macht es einfacher mit dem Staub. Drei Mikrosievert entsprechen etwa einem Zwanzigstel dessen, was Passagiere auf einem Flug von New York nach Frankfurt an Radioaktivität empfangen.

Bei jenen, die regelmäßig in der Nähe des Kraftwerks sind, dürfte die Dosis allerdings deutlich höher ausfallen als bei Besuchern. "Im Kraftwerk selbst arbeiten noch 3500 Menschen", sagt der Fremdenführer Nicolai Fomin, der im Dorf Tschernobyl etwa 15 Kilometer vom Reaktor entfernt in den Bus zugestiegen ist, der Pflichtbegleiter für diese Tour: "Immer zwei Wochen Arbeit, zwei Wochen Pause", erklärt er den Rhythmus im Kraftwerk. Die Beschäftigten wohnen während der Arbeitsperioden in Tschernobyl oder verlassen die Sicherheitszone nach der Schicht.

Das Sperrgebiet hat einen Radius von 30 Kilometern um den Reaktor. Die verbotene Zone darf nur mit Genehmigung der Regierung betreten werden. Die Zahl der Besucher steige seit Jahren, sagt Fomin in seinem Tarnanzug. Vor seiner Arbeit in Tschernobyl studierte er in Kiew Internationale Touristik. Die Arbeit im Sperrgebiet nahm er vor einigen Monaten ohne Zögern an. Die Auswahl an vernünftig bezahlten Jobs ist nicht so groß in der Ukraine.

Die Arbeiter und Ingenieure im Kraftwerk allerdings werden dringend gebraucht. Vier Reaktoren waren in Tschernobyl einst in Betrieb. Der Bau von zwei weiteren wurde am Tag der Katastrophe gestoppt. Noch heute rosten die Kräne an den unvollendeten Betongebäuden etwas abseits der Hauptanlage vor sich hin. Das Atomkraftwerk lieferte noch lange nach der Katastrophe weiter Strom. Reaktor 3 ging als Letzter erst im Jahr 2000 vom Netz. Hunderte Tonnen von Brennelementen stecken noch immer in den drei nicht havarierten Reaktoren. Etliche Tausend Brennelemente werden außerdem in einem alten Zwischenlager sowjetischer Bauart aufbewahrt. Niemand weiß bislang wohin mit dem strahlenden Inventar.

Auch unter dem Sarkophag liegen noch immer Hunderte Tonnen hoch radioaktives Material. Es ist das Chaos, das die Explosion und der folgende zehntägige Brand des Reaktors hinterließen: der größte Teil der einstigen Uran-Brennelemente und die Einbettung des Reaktorkerns, die aus Graphit bestand. Außerdem Blei, Sand und andere Substanzen, die zur Löschung des Brandes und zur Eindämmung der Radioaktivität aus Hubschraubern abgeworfen worden waren. Und schließlich Bauschutt des damals teilweise eingestürzten Reaktorgebäudes.

"Nach und nach zerfällt all dieses Material unter der radioaktiven Strahlung zu einem hochgradig kontaminierten Staub", sagt Atomexperte Smital und blickt auf die Betonhülle. An der Stirnseite und an den Flanken wird sie von Stahlkonstruktionen abgestützt, damit sie nicht zusammenfällt. Der Sarkophag sei baufällig, sagt Smital. Die Radioaktivität, aber auch eindringendes Wasser zermürbten die Hülle aus Stahl und Beton immer weiter. Deshalb drohe die Konstruktion irgendwann einzustürzen: "Wenn das passiert, könnte eine radioaktive Staubwolke aus der Ruine eine Region von bis zu 50 Kilometern um das Kraftwerk verseuchen - mit einer Dosis an Atemgiften, die tödlich wäre."

Mit den bisherigen Nachbesserungen wird die Schutzhülle voraussichtlich noch zehn bis 15 Jahre halten, schätzen Experten. Einen Plan für einen weit größeren Sarkophag gibt es längst - doch das nötige Geld fehlt noch. Die Mitglieder der EU, die Ukraine und eine Reihe weiterer Staaten zahlten in einen Hilfsfonds bei der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung bislang rund 860 Millionen Euro ein. Mindestens die doppelte Summe wird nach heutiger Schätzung benötigt.

Vorgesehen ist der Bau einer riesigen bogenförmigen Hallenkonstruktion, bis zu 110 Meter hoch, 267 Meter breit, 164 Meter lang. Der Hamburger Hauptbahnhof würde zweimal unter diese überdimensionale Abdeckung passen. Weil der neue Sarkophag aber eine strahlende Reaktorruine abdecken soll, muss er abseits des Kraftwerks gebaut und auf Spezialschienen über den Reaktor 4 gefahren werden - mit einem geschätzten Gewicht von 29 000 Tonnen, das wäre schwerer als jedes andere an Land bewegbare Objekt, das bislang gebaut wurde. Für weitere 100 Jahre soll die Konstruktion den Ort der Katastrophe abschirmen - und vielleicht auch die Bergung des radioaktiven Inhalts ermöglichen, hoffen Optimisten.

Immer wieder schlägt Smitals Radiometer auf der Fahrt um den Rektor herum aus. Ohne Messgeräte ist die Radioaktivität nicht wahrzunehmen. Die größte sichtbare Konsequenz steht rund zwei Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt. Die Zufahrt nach Pripjat wird von einer eigenen Straßensperre gesichert. Dahinter beginnt eine Geisterstadt, in der einst mehr als 50 000 Menschen lebten, die Arbeiter und Angestellten des Atomkraftwerks Tschernobyl. Hier endeten die Segnungen des Sozialismus bereits mehr als fünf Jahre vor dem Zerfall der Sowjetunion. Am Tag nach der Explosion in Reaktor 4 wurden die Bewohner von den Behörden evakuiert.

Die Plattenbauten zerbröseln und verfallen, die Wohnhäuser, das Hotel und das Schwimmbad, auch der Vergnügungspark mit der verwitterten Autoscooter-Bahn und dem Riesenrad. Am 1. Mai 1986, dem Tag der Arbeit, sollte die Anlage den Menschen zum ersten Mal Freude bereiten. Sie ging nie in Betrieb. Espen und Pappeln, Ahorn, Weiden und Birken wachsen zwischen den Häusern in einer auffallend gleichmäßigen Höhe. Pripjat wirkt so traurig, weil die Stadt so fröhlich war, als sie starb.

Es seien schöne Frühlingstage gewesen, damals im April, sagt Mykola Isaiev, 56. In einem Konferenzraum des President-Hotels in Kiew berichtet er am Tag nach der Tour ins Sperrgebiet. "Die Menschen saßen abends vor ihren Häusern und genossen die milde Luft", sagt Isaiev. Der Tag der Katastrophe war ein Sonnabend. Wie immer seien fliegende Händler aus Weißrussland herübergekommen, um ihre Milch, ihr Obst und Gemüse feilzubieten. Ihre Stände bauten sie nicht mehr auf.

Isaiev hielt es für einen Scherz, als seine Kollegen ihm am 26. April morgens vor der Schicht über stark erhöhte Radioaktivität berichteten. Doch dann erlebte er, wie die Katastrophe ihren Lauf nahm. Die Evakuierung von Pripjat, bei der auch seine Frau und seine zwei Kinder dabei waren, der Aufmarsch des Militärs, die Rettungsarbeiten am havarierten Reaktor. Isaiev musste Soldaten den Weg auf das teilweise weggesprengte Reaktordach weisen, den Weg in den sicheren Tod. Erst im Sommer 1986 sah er seine Familie wieder. Noch bis 1991 arbeitete er im Reaktor, dann war seine Gesundheit ruiniert - Hepatitis, Herz- und Kreislaufleiden machten ihn zum Frührentner.

Der Ingenieur organisierte die Interessen von Tschernobyl-Veteranen und gründete später mit anderen eine Partei. Das Risiko, das im Reaktor 4 von Tschernobyl lauere, werde nicht kleiner, sondern größer: "Wir bräuchten die neue Sicherheitshülle für den Reaktor nicht heute oder gestern, sondern vorgestern", sagt Isaiev. "Aber wenn es im Tempo der vergangenen Jahre weitergeht, steht der kommende Sarkophag erst im nächsten Jahrtausend."

Anfangs wurden sie als Helden gefeiert, die "Liquidatoren" und die vielen anderen Helfer und Retter von Tschernobyl. Man steckte ihnen Orden an, organisierte Renten und Medikamente, Aufenthalte in Sanatorien und andere Erleichterungen für sie oder die Angehörigen der Toten. Mit dem Zerfall der Sowjetunion aber sei auch die alte Solidarität in der Gesellschaft verschwunden, meint Isaiev und zeigt traurig die Verdienstmedaillen an seinem Anzug. "Die Ukraine interessiert sich heute nicht mehr für unser Schicksal. Die Regierung will die finanziellen Lasten loswerden, die mit diesem Teil der Vergangenheit verbunden sind", sagt er. "Sicher, irgendwann sind wir Zeitzeugen alle tot. Aber das Erbe von Tschernobyl, die Radioaktivität, wird unserem Land noch lange zu schaffen machen."